Matthäus 20,1-14
Die Parabel besteht aus zwei etwa gleich langen Teilen. Der erste Abschnitt schildert die Anwerbung der Arbeiter, der zweite die Auszahlung des Arbeitslohnes und ihre Folgen: den Protest der zuerst Eingestellten sowie die Antwort des Arbeitgebers. Dass die Lohnauszahlung bei den letzten beginnt, hat rein erzähltechnische Gründe: Nur so können die Ersten bemerken, dass sie den gleichen Lohn erhalten wie die Letzten. Lediglich mit der ersten Gruppe vereinbart der Weinbergbesitzer den Lohn: ein Denar, das entspricht dem damals üblichen Tageslohn. Bei der zweiten Gruppe heißt es nurmehr: „Ich werde euch geben, was recht (wörtlich: gerecht) ist“, bei den folgenden ist vom Entgelt gar nicht mehr die Rede; sie können offenbar froh sein, überhaupt noch eine Beschäftigung gefunden zu haben.
Am Schluss erreicht die Erzählung ihren dramatischen Höhepunkt: Die zuerst Angeworbenen empören sich über den Weinbergbesitzer, weil er ihnen genau den gleichen Lohn auszahlt wie den zuletzt Eingestellten. Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass für ein Mehr an Leistung auch ein Mehr an Entlohnung zu erwarten ist: „Du hast sie uns gleichgemacht.“ Das ist Mitte und Kernsatz ihrer Empörung.“
Einem von ihnen – und das heißt wohl: jedem Einzelnen von ihnen ganz persönlich – begründet der Weinbergbesitzer sein Verhalten. Seine Antwort bezieht sich unmittelbar auf das angebliche Unrecht, dass dem Ganztagsarbeiter widerfahren ist. Offensichtlich versucht er ihn für sich zu gewinnen, sein „anstößiges“ Verhalten verständlich zu machen: „Mein Freund, ich tue dir kein Unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? So nimm das Deine und geh. Ich will diesem Letzten das gleiche geben wie dir.“
Der Weinbergbesitzer behandelt alle Arbeiter gleich. Er macht keinen Unterschied. Die Höhe des „Lohns“, den die „Arbeiter im Weinberg“ erhalten, richtet sich nicht nach dem Maß ihrer Leistung. Die Zusicherung an die später Eingestellten, ihnen zu geben, „was recht (wörtlich: „gerecht“) ist“ (Vers 4), war anders gemeint, als gewiss auch diese sie verstanden hatten: ihnen nämlich genau den Lohn auszuzahlen (und nicht etwa weniger!), der dem Maß ihrer Leistung entspricht. Als „gerecht“ empfindet es der Weinbergbesitzer vielmehr, allen Arbeitern den gleichen Geldbetrag auszuzahlen, und zwar in genau der Höhe, wie er ihn mit den zu Beginn des Arbeitstages eingestellten Arbeitern ausgehandelt hatte: ein Denar. Dies war offensichtlich der Betrag, der benötigt wurde, um die Existenz des Arbeiter und seiner Familie für diesen einen Tag zu sichern.
Der Weinbergbesitzer folgt also keiner abstrakten Norm, keinem Gerechtigkeitsbegriff, der auch Not und Elend mit sich bringen könnte bzw. für den diese Folgen in keiner Weise relevant wären. „Recht“, „gerecht“ ist sein Handeln vielmehr, als es der Existenz der Arbeiter „gerecht wird“, wobei – darauf sei noch einmal hingewiesen – seiner Haltung das Bemühen der Arbeiter, und zwar aller Arbeiter, korrespondiert, tatsächlich und unablässig nach Arbeit ausgeschaut zu haben: Auch die erst später Eingestellten hatten die Absicht, sich den ganzen Tag über „in der Welt zu betätigen“, haben gleichsam bis zur letzten sich bietenden Gelegenheit (bis zur letzten Stunde vor dem Ende des Arbeitstages) diesen Wunsch zu erkennen gegeben (V. 6f.).
Vers 15 fügt dieser völlig ausreichenden Erklärung für das zunächst überraschende Handeln des Weinbergbesitzers zwei weitere Gründe an, die aber jeweils auf einer anderen Ebene liegen. Zunächst erfolgt eine Berufung auf das Eigentumsrecht, auf das allein dem Eigentümer zustehende Verfügungsrecht über seinen Besitz, das sein Handeln erklären soll, es aber letztlich auch jeder Nachfrage entzieht. „Kann ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?“ (Vers 15a) Nicht mehr die Arbeiter sind es, die sein Handeln bestimmen – dass sie nämlich alle dasselbe erhalten sollen –, sondern die hier durch nichts in Frage gestellte Tatsache, dass er mit seinem Privatbesitz nach Gutdünken verfahren könne und dabei niemandem eine Rechtfertigung schuldig sei.
Ein weiterer, theologisierender Zusatz bringt schließlich die Güte ins Spiel, die den Weinbergbesitzer entsprechend handeln lässt und den Fragenden gleichzeitig – nämlich ob seiner Missgunst – beschämt: „Oder sieht dein Auge böse drein, weil ich gütig bin?“ (Vers 15b) Beide auf Vers 14 folgende Begründungen sind jeweils rein subjektiver Natur und beziehen sich nicht mehr auf das Verhältnis des Weinbergbesitzers zu den von ihm angestellten Erntehelfern. Aller Wahrscheinlich nach also sind die an die erste Antwort angehängten Erklärungen einer späteren Zeit zuzuschreiben. Offensichtlich reichte den späteren Rezipienten dieser Beispielerzählung schon bald der „einfache“ Wille zur Gleichbehandlung nicht mehr aus.
Auch Anton Mayer ist die Problematik dieses Verses aufgefallen: „Schon im NT wird mit der heute noch üblichen, vom alten Buddenbrook wörtlich wiederholten Frage: ‚Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?‘, das absolute Recht über das Eigentum behauptet. Hier schon wird mit dem Wort ‚Oder bist du neidisch?‘ jede Kritik an sozialen Privilegien als Mißgunst, nach dem Urtext als ‚böse‘ diskrimiert (Mt 20,15).“ (Der zensierte Jesus. Soziologie des Neuen Testaments, Walter-Verlag, Olten 1983, S. 268)
Ohne den 15. Vers aber bliebe es bei dem Skopus, der von Anfang an in der Geschichte angelegt ist, nämlich um die Auszahlung eines der Bedürftigkeit aller Arbeiter angemessenen, nicht leistungsabhängigen und deshalb für alle gleichen Geldbetrags. Handlungsleitend sind gerade nicht Recht oder Moral und ebenso wenig Großzügigkeit und Güte, sondern das angemessene Verhältnis zum Mitmenschen, die Realisierung der einfachen Tatsache, dass jeder Mensch mit dem auszustatten ist, was er braucht, unabhängig vom Maß seiner Leistung. Von dieser „Spielregel des Reiches Gottes“ möchte der Weinbergbesitzer gewissermaßen jeden Einzelnen derer, die sich empören, überzeugen. Er möchte sie loseisen von einer der Welt nicht angemessenen, einer dem „Reich Gottes“ entfremdeten, allerdings bereits aufs äußerste verfestigten, ja bereits zur Selbstverständlichkeit verformten Denk- und Verhaltensweise.
Höchstwahrscheinlich endete die ursprüngliche Erzählung also nicht erst mit dem 15., sondern bereits mit dem 14. Vers. In diesem Fall würde die ursprüngliche Antwort geradezu gerahmt von einer wertschätzenden Haltung dem Fragenden gegenüber. Er wird nicht nur gleich zu Beginn ein „Freund“ genannt, sondern auch ganz zum Schluss ist wieder seine Person im Blick, die genau das erhalten hat, was recht und richtig ist. Doch das impliziert eben auch, dass der Weinbergbesitzer allen dasselbe geben will „wie dir“.
So verdeutlicht die Beispielerzählung von den Arbeitern im Weinberg die neue Gerechtigkeit des „Reiches Gottes“: Sie ist nicht leistungs-, sondern bedürfnisbezogen. Alle bekommen, was sie zum Leben brauchen, nicht mehr, aber auch nicht weniger, unabhängig vom Maß ihrer Arbeit. Es wird allerdings vorausgesetzt, dass wirklich alle arbeiten wollen, auch die Einstundenarbeiter. Dem Vorwurf des Müßiggangs wird besonders ausführlich dadurch der Wind aus den Segeln genommen, als diese auf eine entsprechende Nachfrage des Weinbergbesitzers glaubhaft versichern, den ganzen Tag auf Arbeit gewartet zu haben – was in gewissem Widerspruch zum bisherigen Verlauf der Erzählung steht: Der Weinbergbesitzer müsste diesen Leuten eigentlich schon bei seinen früheren Anwerbungen begegnet sein. Jeder Mensch (der ja grundsätzlich arbeiten will, durch seine Arbeit der Gesellschaft und dem Leben nutzen möchte), erhält, was er zum Leben braucht. Zwar spielt die Bereitschaft zur Arbeit selbst eine gewisse Rolle, nicht aber ihre Dauer oder ihr Ertrag.
Ganz selbstverständlich geht die Geschichte davon aus, dass die ökonomischen Verhältnisse dem Wesen des „Reiches Gottes“ zu entsprechen haben, in der nicht Leistung und Leistungsfähigkeit, sondern die Bedürfnisse des Menschen alleiniger und alles bestimmender Maßstab sind. Diese aber sind weitgehend gleich. Deshalb bilden Menschen im „Reich Gottes“ immer eine egalitäre Gesellschaft.
Später ist das Gleichnis nochmals erweitert worden:
Das wohl von ‚Matthäus‘ hinzugefügte, ursprünglich eigenständige (vgl. Markus 10,31; Lukas 13,30) Logion „So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein“ (Vers 15) versteht die Geschichte fälschlich eschatologisierend im Sinn einer Umkehrung der Reihenfolge am Jüngsten Tag. Tatsächlich hat die Umkehrung der Reihenfolge im Gleichnis, wie schon erwähnt, rein erzähltechnische Gründe: Nur weil die Auszahlung mit den zuletzt Eingestellten beginnt, können die zuerst Eingestellten das ungewöhnliche Auszahlungsprinzip überhaupt registrieren. Es geht nicht um die Umkehrung der Reihenfolge, sondern um die Gleichheit, es geht nicht um die Zukunft bzw. das Jüngste Gericht, sondern um die Gegenwart.
Einige Handschriften haben an diesen matthäischen Zusatz noch die Matthäus 22,14 entstammenden Worte „Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt“ angehängt, interpretieren die Geschichte somit endgültig als Gerichtsgleichnis, nämlich als Warnung vor der Zurückweisung derjenigen beim Endgericht, die dem Verhalten des Weinbergbesitzers, und das heißt hier: Gottes, widersprechen. Doch im Gleichnis werden die protestierenden zuerst Eingestellten nicht verurteilt; vielmehr erhalten sie den vereinbarten Lohn.