„Die notwendige Abkehr von der Sühnetheologie, die Wiederentdeckung der Jesusüberlieferung und die Erneuerung der Mahlfeier“

lautet der Titel des unter der Überschrift „Nicht länger durch die falsche Brille“ in Nummer 7/2013 der Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern veröffentlichten Aufsatzes von Burkhard Müller.

Zwei Zitate vorab:

„Wo aber durch eine Deinstallation dieses Updates (der Sühnetheologie des Anselm von Canterbury; C.P.) der nach Sünden und Sühne muffelnde Ungeist vertrieben ist, da können wir durchatmen. Der Blick auf die Frohe Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus in diese Welt gebracht hat, wird frei.“ 

Der Aufsatz endet mit den Sätzen:

„Glücklicherweise haben sich in vielen Gemeinden der Sinn und die Gestaltung der Abendmahlsfeier nach dem Vorbild der biblischen Abendmahlsverständnisse verändert. Kirchenleitende Aufgabe wäre es, zu dieser Entwicklung zu ermutigen. Das Abendmahl muss von den dogmatischen und liturgischen Fesseln der Tradition befreit werden. Das frühere Update muss man deinstallieren dürfen. Nur so wird für viele möglich, ‚denken und leben zu können, was man glaubt‘. (Jörns)“ 

Es folgt (mit freundlicher Genehmigung des Autors) der Aufsatz in voller Länge:

Natürlich: ein „Update des Glaubens“ (Jörns) ist notwendig. Der Begriff „Update“ ist neu. Die gemeinte Sache ist alt. Immer wieder war es nötig und wird es nötig sein, die christliche Wahrheit durch ein Update den Rahmenbedingungen des Denkens und den Grundüberzeugungen anzupassen.

Zu einem besonders folgenreichen Update kam es durch Anselm von Canterbury (gest. 1109). Weder aus der Bibel noch aus der griechischen Gedankenwelt, sondern aus dem germanischen Denken stammte der gesellschaftliche Konsens seiner Zeit: Schuld kann nicht einfach vergeben, sondern muss gesühnt werden; die gestörte Welt-Ordnung kann nur durch Genugtuung repariert werden.

In seiner Schrift „cur deus homo“ stellt Anselm dar, dass der Mensch durch seine Sünde die Ehre Gottes verletzt. Nun darf Gott nicht barmherzig vergeben. Einfach aus Liebe die Schuld niederzuschlagen, ziemt sich nicht. Gott kann nicht verzeihen ohne Satisfaktion. Der Mensch muss Satisfaktion leisten. Aber er kann es nicht. Nur einer, der größer ist als der Mensch, kann das, letztlich Gott selbst.

Aus diesem Dilemma gibt es ganz logisch nur einen Ausweg: Gott selbst wird Mensch. Nur der Gottmensch, der ohne Sünde ist, kann die Ehre Gottes wiederherstellen, indem er freiwillig für die Menschen den Tod auf sich nimmt als das Strafleiden, das er nie verdient hat, weil er ohne Sünde ist.

So konstruiert Anselm die Satisfaktionslehre. Seitdem – und erst seitdem – ist sie in der Welt. Zum Erfolg dieser Lehre gehört, dass schon Anselm biblische Sätze besonders bei Matthäus und Paulus (etwa Römer3, 24f. ) in diesem Sinn interpretiert hat. Und sie ist bis heute akut und lebt in Agenden und Gesangbüchern ebenso weiter wie in den Köpfen und Herzen vieler Christenmenschen.

Mit der Brille der Satisfaktionslehre auf der Nase liest man die Bibel manchmal gründlich falsch.

So redet Joh. 15,13 von der großen Liebe des Menschen, der seine Lebenskraft für seine Freunde einsetzt. Aber verstanden wurde sie Anselm entsprechend als eine Liebe, die in den Tod geht. (Und man hat mit dieser Interpretation Hunderttausende von jungen Männern in die Kriege geschickt!)

Auch der gute Hirte (Johannes 10,1) setzt gemäß Urtext seine Lebenskraft für seine Schafe ein, aber in der Lutherübersetzung wird Jesus zum guten Hirten, der „sein Leben lässt“, also in den Tod geht.

Und Gott, der seinen Sohn gab, dass er in der Welt wirke (Joh.3,16), wird in vielen Predigten zum Gott, der seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden in den Tod gab.

Die Leidensgeschichte Jesu berichtet davon, wie Jesus als Zeuge und Märtyrer für seine Botschaft und insofern „für uns stirbt“. Kein Wort von einem Sühnetod ist in der ganzen Passionsgeschichte zu finden.

Wie man, statt die Bibel aus-zulegen, den Satisfaktionsgedanken hinein-legen kann, zeigt ein Beispiel aus unseren Tagen: Die neu übersetzte Zürcher Bibel (2007) schreibt in Römer 8,3 „Gott hat seinen Sohn […] gesandt, als Sühnopfer, und verurteilt damit die Sünde im Fleisch“. Nur: das „als Sühnopfer“ ist dogmatische Interpretation der Übersetzer, es steht nicht im Urtext.

Gegen alle Gerüchte, die über Paulus verbreitet werden: er kennt den Sühnopfer-Gedanken nicht. So schreibt der Bonner Neutestamentler Michael Wolter in seinem neuen Paulus-Buch über die Begriffe Sühne und Stellvertretung:

„Beide Begriffe bezeichnen Sachverhalte unserer und nicht der biblischen Wirklichkeitsauffassung. Der Begriff Sühne stammt aus dem germanischen Rechtswesen. Noch jünger ist der Begriff „Stellvertretung“, denn der ist erst in der Mitte des 18. Jahrhundert entstanden“ (S. 102f.).

Paulus versteht Tod und Auferstehung Jesu als das Heilsereignis. Aber der Tod ist nicht als Satisfaktion gedeutet. Er wird nach Paulus zum Heilsereignis durch eine Art mystischer Einverleibung der Menschen in Christus hinein. Wir sind mit ihm so verbunden, dass wir gleichsam mit ihm gestorben sind und mit ihm leben werden.

Wir haben dadurch unsern Tod hinter uns wie das ewige Leben vor uns.

Hier ist nicht der Platz, das im Detail zu entfalten.

Ich will nur zeigen, dass nach meiner Ansicht durch eine Pauluslektüre ohne Satisfaktionsbrille leicht festgestellt werden kann, dass Paulus den Satisfaktionsgedanken nicht kennt.

Das Update des Glaubens aus dem 11. Jahrhundert war sehr erfolgreich. Aber ich wünschte, es deinstallieren zu können. Denn es ist nicht gut für unseren Glauben, an dieser Lehre vom Sühnetod Jesu festzuhalten.

Schon seit Jahrhunderten kämpfen Theologen gegen diese kirchlich so fest verankerte Vorstellung vom Sinn des Todes Jesu.

– Wieso ist Gott ein freier Gott, wenn er so unter dem Zwang der Gerechtigkeit steht, ein Sühnopfer zu benötigen?

– Was ist das für einen Liebe Gottes, wenn sie nicht ohne den Tod des Gottessohnes vergeben darf?

– Wie kann die Kränkung Gottes der Grund dafür sein, seinen Sohn zu senden? Hat er ihn nicht aus Liebe zu uns geschickt?

– Wieso ist ein Reden von einem Sühnopfer Jesu im Bereich einer Bibel überhaupt zulässig, die so entschieden Menschenopfer verabscheut?

– Wie kann der Gedanke todbringender Gewalt in das christliche Gottesbild hineingeraten?

– Ohne Stellvertretung kann zwar das menschliche Zusammenleben nicht gelingen. Aber Stellvertretung in Fragen der Schuld und Sühne kann es doch nicht geben!

Warum nur hat sich die spirituelle Weltformel „Gott ist Liebe“ gegen die Satisfaktionslehre nicht wirklich durchsetzen können?

Warum lässt man die Wächter der Satisfaktion so behänd aufstehen und traut ihrem spöttischen Warngeschrei so willig, eine Theologie ohne Sühnetod Jesu sei eine populistisch bekömmliche Wellnesstheologie? Sie propagiere einen „lieben Gott“, der dem Hund gleiche, von dem sein Herrchen sagt: „Der ist lieb, der tut nichts!“

Gottes Liebe und sein heiliger Geist der Liebe aber tun Vieles: Sie haben die Kraft, die Heilung der Welt in Gang zu setzen, und sie fangen bei uns damit an. Sie setzen uns in Bewegung, Werke der Liebe zu tun und gegen allen Hass und alle Ungerechtigkeit vorzugehen.

Der dunkle Geist der Satisfaktionslehre hat sich auf alles gelegt und alles verdüstert. Wo aber durch eine Deinstallation dieses Updates der nach Sünden und Sühne muffelnde Ungeist vertrieben ist, da können wir durchatmen. Der Blick auf die Frohe Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus in diese Welt gebracht hat, wird frei. Einzelnen ist es gelungen, für sich dieses Update aus dem Mittelalter zu deinstallieren. Aber die Kirchen als solche sind nicht so weit.

Manche wünschen sich, das Evangelium „zurück auf Null“  stellen zu können, die „Werkseinstellung“ wiederherzustellen, alle nachösterlichen Updates auszulöschen und den historischen Jesus kennenzulernen, mit dem alles begann. Doch das geht nicht. Den historischen Jesus kennen wir nur aus Überlieferungen, in denen der Osterglauben der Jünger fest und untrennbar einprogrammiert ist. Aber diese ersten frühen Updates sind so durchlässig für das radikal Neue der Botschaft Jesu, dass wir ihn darin hören können. Dies hilft uns nun, an Gottes Liebe und an die Verheißungen des Reiches Gottes zu glauben.

Aber das Abendmahl? Ist da nicht von „Vergebung der Sünden“ die Rede?

Nun ist schon in den Evangelien und bei Paulus das Abendmahl ein nachösterliches Update der vorösterlichen Praxis Jesu, das Reich Gottes mit Mahlzeiten zu feiern.

Nur nebenbei sei angemerkt: Das Essen von Fleisch und  Trinken von Blut ist bei Jesus sicherlich nicht der Sinn des Abendmahls gewesen. Die Vorstellung, Blut zu trinken, ist für einen Juden zurzeit Jesu schlechthin undenkbar und frevelhaft gewesen. Ich bin mir ganz sicher, dass Jesus als Jude seiner Zeit niemandem je nahegelegt hat, das Trinken des Weins als Trinken seines Blutes zu verstehen. Diese Vorstellung ist ein Update aus späterer Zeit, das man dringend deinstallieren sollte.

Es gibt auch ohne diese Vorstellung in der Bibel vielfältige Angebote, das Abendmahl zu verstehen und sinnvoll zu feiern.

So kann es vom Passahmahl her verstanden werden. Das Passahmahl hat nichts mit Sündenvergebung zu tun. (Man frage Juden zur Bedeutung des Passahmahles!) Ein so verstandenes Abendmahl wird Fest des Aufbruchs in eine befreite Zukunft.  „Freiheit und Aufbruch“ könnten Stichworte für die so gestaltete Feier sein.

Paulus und Lukas kennen die Interpretation als Gedächtnismahl: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“.

Oder die Gemeinde feiert es als eschatologisches Mahl, als Mahl der Freude und Hoffnung auf das Reich Gottes. Mit großen Folgen: Wer sich auf eine Welt ohne Tränen freut, wird schon jetzt Leid verhindern und Tränen trocknen wollen. Wer sich auf eine Welt des Schalom Gottes freut, wird schon jetzt am Frieden arbeiten.

Oder man feiert es als Fest des Neuen Bundes. Dieses Bild hat der historische Jesus vermutlich nie benutzt. Aber durch dieses Update der frühen Christen wird das Abendmahl zum Dankfest dafür, in die Heilsgeschichte des Volkes Israel hineingenommen zu sein.

Bei Paulus ist das Abendmahl die Feier, durch die Christus die Menschen zu seinem einen Leib zusammenschweißt (1.Kor.11-12).

Nur ein einziges Mal ist auch von der „Vergebung der Sünden“ (Matthäus 26,28) geredet. Nicht bei den vier Brotworten, nur bei einem der vier Kelchworte. Aber ausgerechnet dieses eine Sünden-Wort wurde in die liturgischen Einsetzungsworte eingebaut. Das satisfaktorische Denken hat sich darin festgemacht und dann im Verlauf der Zeit alle anderen biblischen Verständnisse des Abendmahls überwuchert. So wurde das Mahl für Jahrhunderte zu einem düsteren Sündermahl. Die Sündenvergebung wurde dem Christen zugeteilt, aber zugleich wurde ihm immer vorgehalten, dass Jesus seinetwegen so schwer leiden musste.

Glücklicherweise haben sich in vielen Gemeinden der Sinn und die Gestaltung der Abendmahlsfeier nach dem Vorbild der biblischen Abendmahlsverständnisse verändert.

Kirchenleitende Aufgabe wäre es, zu dieser Entwicklung zu ermutigen. Das Abendmahl muss von den dogmatischen und liturgischen Fesseln der Tradition befreit werden. Das frühere Update muss man deinstallieren dürfen. Nur so wird für viele möglich, „denken und leben zu können, was man glaubt.“ (Jörns)

Burkhard Müller war bis zu seinem Ruhestand Superintendent in Bonn. Seinen theologischen Ansatz finden Interessierte in seinem Buch „Für unsere Sünden gestorben? Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion“ (cmz-Verlag, 3. Auflage, 15 €) ausführlich dargelegt.


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