Kapitel 10

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

„Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche.“

Das Bildwort vom neuen Stoff und neuen Wein (Markus 2,21–22a*)

Das zweite der 21 Jesusworte

 

Das Sternchen (*) nach einer Bibelstelle bedeutet, dass es sich nicht um den gesamten angegebenen Text handelt.

Unmittelbar auf die geradezu atemberaubende Antwort Jesu auf die Frage, warum er, der den Menschen offensichtlich als homo religiosus begegnete, gleichwohl nicht fastet, und auf die späteren, die Antwort Jesu relativierenden, ja entstellenden Erweiterungen folgen im Markusevangelium Sätze, die wiederum mit seiner „Reich-Gottes“-Botschaft in Verbindung stehen könnten. Sie ist ja in der Tat etwas völlig Neues und mit den üblichen und oft selbstverständlichen religiösen Vorstellungen unvereinbar. Genau dies dürfte das Thema des folgenden Bildwortes sein:

 

Niemand näht einen Flicken von neuem Stoff auf ein altes Gewand.
Sonst reißt das Füllstück von ihm ab,
und der Riss wird schlimmer.
Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche.
Sonst zerreißt der Wein die Schläuche,
und der Wein geht verloren mitsamt den Schläuchen.

 

Auch dieses Wort ist aller Wahrscheinlichkeit nach im Lauf der Überlieferung erweitert und ergänzt worden, zum einen durch den verstärkenden Zusatz „das neue vom alten“ nach „Sonst reißt das Füllstück von ihm ab“, zum anderen durch den abschließenden Halbsatz „sondern neuen Wein [füllt man] in neue Schläuche“ (Vers 22b). Er durchbricht nicht nur den gleichförmigen Aufbau des Doppelspruchs (Handlung – Folge – Ergebnis, Handlung – Folge – Ergebnis), sondern verschiebt auch seine Intention. Jesus geht es nicht um den richtigen Aufbewahrungsort für den „neuen Wein“ seiner Botschaft, sondern ganz entschieden darum, dass sie nicht mit alten Traditionen verbunden und damit sofort wieder in die bereitstehenden Schubladen gesteckt wird. Es gibt nichts Altes, mit dem man sie verknüpfen, es ist aber auch kein Aufbewahrungsort vorhanden, in dem man sie „ablegen“ könnte.

Hier, wie beim Bild von der Hochzeitsfeier, greift Jesus wieder konkrete Alltagserfahrungen seiner Mitmenschen auf, um zu verdeutlichen, worum ihm so sehr zu tun ist. Jeder Schneider wusste, dass sich ein aus „ungewalktem“, wie es wörtlich heißt, also neuem Stoff bestehender Flicken zusammenziehen und ausreißen würde, wenn man ihn auf ein altes Gewand nähte. Und kein Winzer käme auf die Idee, neuen Wein in alte, spröde Lederschläuche zu füllen – der junge gärende Wein würde sie in kürzester Zeit zersprengen. Genauso verhält es sich (was sollte Jesus sonst damit gemeint haben?) mit seiner ganz neuen Art von Religion: Sie ist mit dem Alten absolut unvereinbar. Das Alte lässt sich auch durch das Neue nicht einfach fortsetzen oder wiederbeleben. Das Neue lässt sich mit dem Alten überhaupt nicht verbinden. Wie das neue Tuch das alte Gewand zerreißen würde, wenn man es mit ihm ausbessern wollte, wie die alten Schläuche zerbersten würden, wenn man sie mit neuem Wein befüllte, so verträgt sich dieses gänzlich neue Evangelium von der Gegenwart des „Reiches Gottes“ in keiner Weise mit dem althergebrachten Vorverständnis.

Wie schwer es war, diese ganz neue Sichtweise des Lebens und der Welt zu vermitteln, ging ja schon aus der Verunsicherung hervor, die Jesus durch seine dezidierte Ablehnung des Fastens erzeugt haben muss. Davon, dass er diejenigen, die ihn deshalb zur Rede stellten, mit seiner Erklärung überzeugen konnte, kann man sicher nicht von vornherein ausgehen. Voraussetzung wäre ja, dass sie bereit gewesen wären, sich seiner Lebensbotschaft insgesamt zu öffnen. Und wie schnell man vor allem nach seinem Tod wieder zu den alten Stoffen und alten Gefäßen gegriffen hat, zeigt die nachträgliche Erweiterung, fast schon Übermalung der Antwort Jesu überdeutlich. Immer wieder wird Jesus schon zu seinen Lebzeiten erfahren haben, dass man sich von den alten vertrauten Vorstellungen einfach nicht trennen wollte oder konnte und deshalb nicht in der Lage war, den ganz neuen Charakter seiner Welt-Religion zu erfassen und sich von ihr ergreifen zu lassen.

Der Umgang der Autoren des Neuen Testaments mit den Jesusworten führt diesen Prozess in aller Deutlichkeit vor Augen. Er kündigt bereits an, dass der Jesusbotschaft in den sich bildenden Kirchen keinerlei Bedeutung mehr zukommen und sie von ganz anderen Glaubenssätzen vollkommen verdrängt werden wird. Praktisch überall dort, wo die Jesusbotschaft doch noch Spuren hinterlassen hat, sind sie mehr oder weniger stark verwischt, mit den alten Stoffen wieder verbunden oder an die alten Schläuche, das heißt an das Nachjesuanische angepasst worden. Dergleichen werden wir immer wieder begegnen. Erst wenn das Neue wieder vom Alten getrennt, aus den alten Schubladen wieder herausgeholt wird, was uns heute dank der Methoden der historisch-kritischen Exegese möglich geworden ist, erstrahlen die Worte wieder in ihrem ursprünglichen Glanz und sind eventuell in der Lage, uns heute ganz neue Wege zu öffnen.

Im Zusammenhang mit diesem kritischen, das heißt, die verschiedenen Überlieferungsschichten eines Textes unterscheidenden und voneinander abhebenden Umgang mit dem Neuen Testament lässt sich aus dem Jesuswort vom neuen Stoff und neuen Wein ein wichtiges Kriterium ableiten, mit dessen Hilfe es gelingen kann, die aller Wahrscheinlichkeit nach echten, authentischen Jesusworte von den vielen Worten abzuheben, die ihm erst nachträglich in den Mund gelegt worden sind. Es handelt sich um das sogenannte Unableitbarkeitskriterium. Ihm ist Exkurs 5 gewidmet.

Claus Petersen

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