Exkurs 2
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Die Grundkonstante der Gewalt in der paulinischen Theologie und der Versuch einer Erklärung
Sprache und Denken des Paulus, des Kronzeugen des „soteriologischen Evangeliums“, sind voll von Gewalt. Gewalt ist geradezu ein Strukturmerkmal seiner Theologie, ist sie doch seinem Gottesbild und deshalb auch seiner Erlösungslehre inhärent.
Ein Gott der sühnenden Gerechtigkeit
Gott ist und bleibt für Paulus der Gott der sühnenden Gerechtigkeit. Seine „Liebe“ besteht lediglich darin, dass, stellvertretend für uns Menschen, sein Sohn Jesus Christus sein Blut für uns vergossen hat. „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!“ (Römer 5,8f.) Immer und immer wieder begegnen in den Paulusbriefen ähnliche Formulierungen: „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben…“ (Römer 8,32). Dies, die Hingabe seines Sohnes, ja die Tatsache, dass Gott ihn dem Fluch der Kreuzigung ausgeliefert und ausgesetzt hat (Galater 3,13), das ist für Paulus der theologische Grund unserer Rechtfertigung, der Rechtfertigung „ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“, so der berühmte Satz in Römer 3,28, des Glaubens nämlich, dass „Gott ihn für den Glauben hingestellt hat als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit“ (Römer 3,25). Der göttlichen Gerechtigkeit wegen ist nach Ansicht des Paulus die Sühne unabdingbar. Da der Mensch sie jedoch niemals erbringen könnte, habe Gott in seiner „Liebe“ seinen Sohn „dahingegeben“, damit dieser sie durch seinen Tod am Kreuz erwirke.
„Rächt euch nicht selbst, meine Lieben“, rät Paulus der Gemeinde in Rom, „sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.‘“ (Römer 12,19) „Der einzelne Christ soll keine Gewalt anwenden, aber nicht etwa, weil das Reich Gottes eine gewaltfreie Welt und Gesellschaft ist, sondern weil Gott im Endgericht sich als Gott der rächenden Gewalt erweisen und die Sühne einfordern wird von all denen, die nicht an Christus glauben, und zwar als den für unsere Sünden Gekreuzigten. Paulus mutet der Gemeinde zwar zu, Böses mit Gutem zu vergelten (12,21), aber indem er auf die Vergeltung von Bösem mit Bösem durch Gott verweist.“ (Jochen Vollmer)
Auch die paulinische Erwählungstheologie (Römer 9–11) hat, abgesehen von ihrer eigenen Problematik, eine zutiefst erschreckende und verstörende Kehrseite. Für Paulus steht fest: Gott hat sein erwähltes Volk nicht preisgegeben, die Erwählungszusage gilt nach wie vor und unverrückbar (Römer 11,1f.). Doch da sich Israel nicht, wie es nach Ansicht des Paulus jetzt geboten wäre, in seiner Gesamtheit zu Christus bekennt, habe Gott den Teil seines Volkes, der sich dazu nicht bereitgefunden hat, solange verstockt, ja verworfen, bis sich alle Nichtjuden zu Christus bekehrt haben werden. „Einem Teil Israels ist Verstockung widerfahren bis zu dem Zeitpunkt, da die Vollzahl der Heiden zum Heil gelangt ist, und so wird ganz Israel gerettet werden“ (11,25b.26a). Erst dann, und das heißt: am Ende der Zeiten, werden die jetzt vom Ölbaum abgebrochenen natürlichen Zweige wieder in ihn eingepfropft werden (11,17–24). „Durch ihren (Israels) Fehltritt ist den Heiden das Heil widerfahren“ (11,11), „ihre Verwerfung ist zur Versöhnung der Welt geworden“ (11,15), „sie sind ungehorsam geworden zugunsten des euch geschenkten Erbarmens“ (11,31) – für Paulus ein exklusiv ihm selber geoffenbartes Geheimnis (ein mystérion), das er seinen Brüdern nicht verschweigen möchte (11,25a).
Pastorale und sozialethische Anweisungen voller Gewalt
Und so droht Paulus ohne Weiteres auch jetzt schon Mitgliedern der christlichen Gemeinde Tod und Verderben an, wenn sie sich nicht so verhalten, wie es zu erwarten wäre. Die Christen in Korinth sollen wissen, dass der unwürdige Genuss des Abendmahls das Gericht, und das heißt konkret: Krankheit, Siechtum und Tod nach sich zieht: „Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selber zum Gericht. Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen.“ (1. Korinther 11,29f.)
Derselben Gemeinde gebietet er im Hinblick auf einen Mann, Mitglied der Gemeinde in Korinth, der mit seiner Stiefmutter sexuell verkehrt: „Ich, der ich nicht leiblich bei euch bin, doch mit dem Geist, habe schon, als wäre ich bei euch, beschlossen über den, der solches getan hat: wenn ihr in dem Namen unseres Herrn Jesus versammelt seid und mein Geist samt der Kraft unsres Herrn Jesus bei euch ist, soll dieser Mensch dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn.“ (1. Korinther 5,3–5) „Verstoßt den Bösen aus eurer Mitte!“ (5,13) Oder, im selben Brief: „Wenn jemand den Herrn nicht liebhat, der sei verflucht.“ (16,22) Ganz ähnlich heißt es im ersten Kapitel des Galaterbriefes: „Auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht. Wie wir eben gesagt haben, so sage ich abermals: Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht.“ (1,8f.)
Es ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass Paulus der staatlichen Gewalt absolute Anerkennung zollt, ist sie doch von Gott selber eingesetzt: „Jedermann soll übergeordneten Gewalten Folge leisten. Denn es gibt keine Gewalt außer von Gott; und die, die es gibt, sind von Gott eingesetzt. Darum: Wer sich der Gewalt widersetzt, befindet sich im Aufstand gegen Gottes Anordnung; und die, die sich im Aufstand befinden, ziehen sich selbst die (künftige) Verurteilung zu. Denn die Herrschenden sind zu fürchten nicht für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du die Gewalt nicht fürchten (müssen)? (So) tue das Gute, und du wirst Lob von ihr erhalten. Gottes Dienerin nämlich ist sie für dich zum Guten.“ (Römer 13,1–4a; Übersetzung: Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer. 3. Teilband: Röm 12–16, EKK VI/3, Zürich, Einsiedeln, Köln 1982, S. 29) Der gerade durch das (göttliche) Recht der Gewaltanwendung charakterisierte Staat ist für Paulus eine unbedingt anzuerkennende sakrosankte Größe. Die Gewaltstrukturen, die demnach das gesellschaftliche Zusammenleben regeln und bestimmen, sind eine unhinterfragte selbstverständliche, ja geradezu göttliche Notwendigkeit. Der Staat ist nicht nur befugt, sondern verpflichtet, den, der sich ihm bzw. seinen Anordnungen widersetzt, mit Gewalt in die Schranken zu weisen.
War bereits die Kindheit des Paulus von Härte und Gewalt geprägt?
Härte, Gehorsam, Selbstdisziplin, eine ihm von außen auferlegte Gewalt, der man sich selbst unterwirft, sprechen aber auch aus folgenden Worten: „Ich übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Maßen für die Satzungen der Väter.“ (Galater 1,14) Die Erfüllung des Gesetzes, das war sein ganzes Bestreben, sein spiritueller Lebensinhalt, und zwar von Anfang an. Was er von Jesus zu wissen glaubte beziehungsweise einfach als selbstverständlich annahm – „…geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan“ –, könnte als Projektion seiner eigenen Kindheit gedeutet werden, worauf insbesondere die Fortsetzung hindeutet: „…damit er die, die unter dem Gesetz waren [und dazu gehörte eben vor allem auch Paulus selbst] erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen [also endlich wie geliebte Kinder leben könnten, wonach sich Paulus wahrscheinlich immer gesehnt hat].“ (Galater 4,4f.)
Aufgewachsen ist Paulus wahrscheinlich in einer streng jüdischen Familie der Diaspora. Der Gesetzesgehorsam stand über allem – und die Drohung göttlicher Gewalt gegenüber jedem, der ihn vernachlässigt oder verweigert. Dass diese von den religiösen Instanzen geforderte Strenge auch das Verhalten seiner Eltern ihm gegenüber bestimmte, ist nicht nur reine Vermutung. Dafür sprechen zunächst einmal sowohl die Härte, die er sich selbst auferlegte, als auch die Unnachsichtigkeit, mit der er die der Tora gegenüber liberaler eingestellten christlichen Gemeinden der hellenistischen Diaspora geradezu leidenschaftlich verfolgt hatte (Galater 1,13.23; 1. Korinther 15,9, vgl. Apostelgeschichte 7,58; 8,1a.3; 9,1–2; 22,4f.).
Unübersehbare narzisstische Züge der Persönlichkeit des Paulus
Doch nicht nur die von Paulus selbst ausgeübte Gewalt lässt auf eigene Gewalterfahrungen schließen, auch sein unübersehbarer Narzissmus deutet darauf hin, dass er große, wahrscheinlich dem gravierenden Mangel annehmender Liebe in seiner Kindheit geschuldete Probleme mit seinem Selbstwertgefühl gehabt haben muss. Er entwickelt ein „Größenselbst“ – neben dem „Größenklein“ eine der beiden Varianten, um den frühen Mangel an elterlicher Zuwendung, Annahme und Bestätigung, die ständig neue Erfahrung, den elterlichen Erwartungen nicht zu entsprechen, also die Kehrseite einer liebevollen Atmosphäre, zu kompensieren. Das Ich muss gesteigert werden, es ist auf den Rausch der Anerkennung, ja Verehrung angewiesen, um sich nicht zu verlieren. Ein solcher Mensch ist geradezu gezwungen, das eigene Ich immer neu herauszustellen und hervorzuheben, um gegen das dadurch natürlich nie wirklich abzustellende Minderwertigkeitsgefühl anzukämpfen und es zu verdrängen:
„Ich habe mein Evangelium nicht von einem Menschen empfangen, bin auch nicht darüber belehrt worden, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“, betont Paulus in Galater 1,12. Gott selbst habe es „gefallen“, ihn „von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen“ zu haben, „dass er seinen Sohn offenbarte in mir, damit ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter den Heiden“, eine göttliche Sendung, für die er keinerlei Bestätigung durch die zu benötigen glaubte, „die vor mir Apostel waren“, sodass er sich sofort auf Missionsreise begab und erst drei Jahre später Petrus kennenlernte (Galater 1,15–19). Er war sich gewiss, „die Gnade des Apostolates für alle Heiden“ empfangen zu haben (Römer 1,5). Als letztem von allen sei ihm „als einer unzeitigen Geburt“ der Auferstandene erschienen (1. Korinther 15,8) – unerlässlich, um als Apostel (wenn auch dem „geringsten unter ihnen“, Vers 9) legitimiert zu sein –, eine allerdings eher unwahrscheinliche Behauptung, da es sich bei den „Erscheinungen“ um visuelle Halluzinationen gehandelt haben dürfte, die voraussetzen, dass diejenigen, die sie erfahren, den ihnen „leibhaft“ vor Augen stehenden Verstorbenen nicht nur gekannt, sondern sich besonders eng mit ihm verbunden wussten (weiter könnte man natürlich fragen, woher Paulus denn wissen wollte, dass er tatsächlich der letzte sei, dem eine Erscheinung des Auferstandenen gewährt worden ist). Unmittelbar „vom Herrn empfangen“ habe er, Paulus, die Worte, die Jesus beim letzten Mahl in Jerusalem gesprochen habe (1. Korinther 11,23) – ein starkes Indiz dafür, dass Paulus diese sogenannten Einsetzungsworte selbst formuliert und gleichzeitig mit der höchstmöglichen Autorität versehen, sie geradezu als sakrosankt erklärt hätte. Paulus‘ Berufung auf eine exklusive Offenbarung wäre kaum möglich gewesen, wenn die Einsetzungsworte in den christlichen Gemeinden bereits ganz selbstverständlich so oder ähnlich rezitiert worden wären. Auch sind die Paralleltexte in den neutestamentlichen Evangelien literarisch allesamt jünger. „Folgt meinem Beispiel!“, ermahnt er die Gemeinde in Korinth (1. Korinther 4,16). „Ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe“, versichert er den Galatern (6,17). Es sei auch noch einmal an seine Ausführungen über die Verstockung und Verwerfung Israels bis zur Bekehrung aller Heidenvölker erinnert (Römer 9–11), die er ein „Geheimnis“ nennt, das sich allein ihm selbst entschlüsselt und kundgetan hat (Römer 11,25).
Zusammenfassung
Gewaltstrukturen bestimmten das Leben des Paulus und durchtränkten seine Vorstellungswelt wahrscheinlich von Anfang an. Durch eine rigide Erziehung dürfte er ihnen bereits in seiner Kindheit unterworfen gewesen sein. Er scheint sie so tief verinnerlicht zu haben, dass er sich später, als sie ihm von Seiten des Staates und der von ihm zunächst übernommenen religiösen Tradition entgegentrat, nicht mehr von ihr lösen konnte. Sie müssen seine ganze Existenz in einer Weise durchdrungen, er muss sie so selbstverständlich akzeptiert haben, dass er ihren Boden auch nach seiner Begegnung mit der christlichen Botschaft nie verlassen hat. Auch weiterhin bestimmten sie seine Denk-, Ausdrucks- und Verhaltensweise. Vor allem aber prägten sie seine für die gesamte Geschichte des Christentums so fundamentale Vorstellung von dem Zugang zur Liebe, Güte oder eben der Gnade Gottes einzig auf dem Weg der Anerkennung der von Gott über den eigenen geliebten Sohn verhängten Gewalt als einer Heils- und Liebestat. Die paulinische Botschaft ist „das Wort vom Kreuz“, er predigt „den gekreuzigten Christus“, nichts will er wissen „als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1. Korinther 1,18.23; 2,2)
Prinzipiell bleiben die Menschen der Gewalt, dem (wegen ihrer Missetaten verdienten) Zorngericht Gottes unterworfen und ausgeliefert. Nur kraft des Glaubens, dass „der gekreuzigte Christus“ es an ihrer Stelle in all seiner furchtbaren Tiefe durchlitten hat, sind sie begnadigt und bleiben sie von ihm verschont. Die paulinische Glaubenswelt setzt die Strukturen der Gewalt nicht nur voraus; sie ist nicht nur von ihnen durchtränkt und bestimmt. Vielmehr stellt der Glaubensvollzug selber nichts anderes als einen einzigen Gewaltakt dar, verlangt er doch quasi ununterbrochen vom Menschen, sich dem zutiefst verstörenden, ja zerstörerischen seelischen Zwang zu unterwerfen, das „Wort vom Kreuz“ als Evangelium, als frohe Botschaft zu begreifen.
Claus Petersen
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