Jörg Hübner, Christoph Blumhardt. Prediger, Politiker, Pazifist. Eine Biographie

Jörg Hübner, Christoph Blumhardt. Prediger, Politiker, Pazifist. Eine Biographie, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019

 

Einen Monat vor dem 2. August 2019, dem hundertsten Todestag des Reich-Gottes-Predigers und -Aktivisten Christoph Blumhardt, ist diese beeindruckende und inspirierende Biografie erschienen*. Der Verfasser, Prof. Dr. Jörg Hübner, ist Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft des dortigen Kurhauses und damit der wichtigsten Wirkungsstätte Christoph Blumhardts befindet. Erstmals stützt sich diese Lebensbeschreibung ausschließlich auf die Originalquellen, nämlich auf das im Jahr 2016 der Akademie überlassene sehr umfangreiche Material aus dem Familienarchiv der Familie Christoph Blumhardt. Bisherige biografische Darstellungen sind stark vom Blumhardt-Bild der jeweiligen Autoren geprägt, und bei den bislang publizierten Quellen handelt es sich zumeist um Abschriften, die zum Teil gravierende Kürzungen und sogar Eingriffe in den Text selber aufweisen – unwillkürlich fühlt man sich an den Umgang der frühen Tradenten und besonders der Evangelisten mit der Jesusüberlieferung erinnert…

Der strikte Bezug auf die Quellen kennzeichnet bereits die Kapitelüberschriften, die immer, zum Teil wortwörtlich, auf Blumhardt selbst zurückgehen. Diese sechs Kapitel führen den Leser durch sechs relativ deutlich voneinander abgrenzbare Epochen des Lebens von Christoph Blumhardt, wobei jeweils zunächst „Biographische Stationen“ die äußeren Entwicklungen darlegen, denen dann charakteristische „Theologische Wegmarken“ zugeordnet werden: (1) Die Welt überwinden! (2) Weltchristentum und „Evangelium des Lebens“ (3) „Werde ein wahrer Mensch“ (4) Menschheitsliebe ist das Losungswort! (5)Vorwärts zum Zukunftsstaat! (6) Die Welt des Krieges überwinden!

Man beachte den Rückbezug dieses letzten Kapitels zum ersten und gleichzeitig die charakteristische Differenz! Während Christoph Blumhardt, dessen Vater die Heilung einer psychisch schwer erkrankten Frau bewirkt hatte, genau aus diesem Grund zunächst den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes und damit die Ablösung der alten Welt durch eine neue erwartet hatte, gelangte er nach einer Zeit schwerer innerer Krisen zu der Überzeugung, dass diese kranke Welt insgesamt, und zwar gerade durch die Mitwirkung der Menschen, geheilt und damit nach und nach dem Reich Gottes entgegengeführt werde. Genau diesen bewegenden Weg von der Enge in die Weite beschreiben die sechs Kapitel dieses Buches in höchst eindrucksvoller und engagierter Weise.

Hier gleich noch ein paar Zwischenüberschriften, die den Appetit aufs Lesen mit Sicherheit noch steigern: „Die ‚schönste Arbeit‘: Die Reich-Gottes-Arbeit“, „Die Zeit der Kirche: Vorbei!“, „Werde ein wahrer Mensch!“, „Das Reich Gottes ist politisch!“, „Krieg: Nein!“ Und wie viele Sätze könnte ich noch aus den einzelnen Kapiteln selber zitieren, die wahrhaft aufhorchen lassen! An dieser Stelle nur noch zweierlei: Hervorragend getroffen, finde ich, ist das jesuanische Verständnis seiner Seligpreisung derer, die nur das besitzen, was sie wirklich brauchen, wenn Blumhardt sie mit den Worten wiedergibt: „Selig sind die Proletarier, denn das Himmelreich kommt zu ihnen.“ (Seite 170) Und dass Blumhardt, für den das Reich Gottes über allem steht, die Sühnopfertheologie, dieses zentrale Dogma der christlichen, aber eben nicht jesuanischen, geschweige denn am Reich Gottes interessierten Kirche, in aller wünschenswerten Klarheit ablehnt (Seite 198f.205), ist nur konsequent.

Die hohe Bedeutung der Originalquellen zeigt sich im Übrigen auch darin, dass dieser Biografie acht für die Positionierung Blumhardts in den unterschiedlichen Phasen seines Lebens besonders bedeutsame bisher unveröffentlichte Briefe und Andachten beigegeben sind. Beim Lesen erinnert man sich an die daraus entnommenen Zitate, denen man schon in der Biografie selber begegnet ist. Jetzt kann man sich nicht nur vergewissern, dass sie keineswegs willkürlich oder in verfremdender Weise „aus dem Zusammenhang gerissen“ wurden, sondern stellt ganz im Gegenteil fest, dass der Kontext sie eher noch einmal unterstreicht.

Dass Jörg Hübner – bei aller gebotenen Distanz und Objektivität gegenüber dem zu behandelnden „Gegenstand“ – gleichwohl mit Christoph Blumhardts Intentionen eindeutig sympathisiert und oftmals augenscheinlich konform geht, ist unverkennbar. Ich vermute, dass eine solche innere grundsätzliche „Zustimmung“ sogar unabdingbar ist, um einem Menschen gerecht zu werden, dessen Impulse in seiner Zeit höchst ungewöhnlich waren, weit über sie hinausreichen und heute endlich wieder vernehmbar gemacht werden sollen. So hat der Verfasser sein Buch seiner neunjährigen Tochter gewidmet mit dem Wunsch, dass die „lebendige Hoffnung und das politische Engagement Blumhardts in der jüngeren Generation Beachtung finden“ mögen.

Aus Sicht der „Ökumenischen Initiative Reich Gottes – jetzt!“ empfehle ich das Buch zunächst vor allem deshalb sehr und möchte es geradezu zur Pflichtlektüre erklären, weil Christoph Blumhardt einer der wenigen Menschen war, deren gesamtes Leben und Wirken sich am Reich Gottes orientierten. Das geht praktisch aus jeder Seite dieses Buches hervor, und es ist sicher kein Zufall, vielmehr ein ganz besonders kunstvoll gesetztes Ausrufezeichen, dass die gesamte Biografie (vor dem dann noch aus der Feder des Verfassers folgenden Epilog) auf der Seite 285 mit dem für Blumhardt absolut zentralen Begriff abgeschlossen wird – und dies auch noch im Rahmen eines Blumhardt-Zitats!: „…Reich Gottes.“

Und Christoph Blumhardt ist zeitlebens dabei geblieben, auch wenn er ein, gerade auch im Raum der Kirche, weithin ohne wirkliche Resonanz gebliebener „Einzelkämpfer“ war. Zwar sah er das Reich Gottes als eine von uns Menschen mit vorzubereitende, aber letztlich doch erst zukünftige Wirklichkeit an, während Jesus von Nazaret die Gegenwart, das Jetzt des Reiches Gottes proklamierte. Allerdings bezieht auch Blumhardt seine Reich-Gottes-Hoffnung ganz klar auf die Welt, und zwar auf diese Welt. Und sie überwindet für ihn – und zwar schon jetzt! – alle Mauern und Grenzen: des Individualismus, des Konfessionalismus, des Nationalismus. Immer wieder geht es ihm um das Ganze, eben um die Welt: Werdet „Weltmenschen“, „Bekommt Weltherzen“, und mit dem „Weltchristentum“ meint er gerade keine Konfession, sondern so etwas wie eine „Weltreligion“, wenn auch dieser Begriff bei ihm ebenso wenig vorkommt wie der der Weltverbundenheit – und doch wären sie ihm bestimmt nicht fremd und unzugänglich gewesen, sondern liegen ganz auf seiner Linie. Eigentlich möchte man ihm immer wieder zurufen: „Das Reich Gottes ist doch zu dir gekommen!“ „An dir wird es doch deutlich: Es ist da!“ Aber lesen Sie selbst. Das Buch hat insgesamt, einschließlich des umfangreichen Anhangs, 369 Seiten, ist mit zahlreichen zeitgenössischen Fotos versehen und kostet 25 Euro.

Claus Petersen

 


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