Lukas 17,20b-21
Der Kontext, die Pharisäerfrage, wann denn das Reich Gottes komme, dürfte sekundär sein. Er lässt sich gut aus der nachjesuanischen Gemeindesituation heraus erklären, in der das Reich Gottes wieder als zukünftige Größe (miss-)verstanden wurde.
Jesus proklamiert hier die Aktualität und Gegenwart des Reiches Gottes. Es steht nicht aus, sondern es ist Gegenwart. Man kann es nicht aus der Distanz heraus beobachten bzw. gleichsam mit dem Finger darauf zeigen als einer objektiven und objektivierbaren Tatsache. „Für einen außenstehenden Zuschauer ist das Reich Gottes nicht sichtbar. Nur dem Beteiligten ist es erfahrbar. Wer mitten in ihm lebt, nimmt es wahr.“ (Hans Bischlager)
Die Bedeutung „inwendig in euch“, wie Martin Luther übersetzt, „kann…mit Sicherheit ausgeschieden werden. Nirgendwo im antiken Judentum noch sonst im Neuen Testament finden wir die Vorstellung, dass die Königsherrschaft Gottes inwendig im Menschen, etwas im Herzen Befindliches sei; ein solches spiritualistisches Verständnis ist sowohl für Jesus als auch für die urchristliche Überlieferung ausgeschlossen.“ (Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1971, 104)
Auch die Ineinssetzung der Basileia, also des Reiches Gottes, mit der Person Jesu ist völlig spekulativ, die Interpretation also, dass das Reich Gottes mit der Gestalt Jesu und nur in ihr seinerzeit inmitten der Menschen präsent gewesen sei. Seit Origenes ist unser Text immer wieder im Sinn einer solchen „Autobasileia“ Jesu missverstanden worden.
Die apokalyptische Eschatologie erwartet das Reich Gottes als Folge eines kommenden kataklysmischen (die ganze Welt überschwemmenden; C.P.) Ereignisses, mit dem Gott die in Sünden gealterte Welt reinigen und Gerechtigkeit, Frieden und Heiligkeit wiederherstellen wird. Gott wird zu einer bestimmten Zeit handeln (bald) und an einem bestimmten Ort (hier). Jesu Vision und Programm dagegen machen deutlich, dass das Reich Gottes überall zugänglich ist für jeden, der bereit ist, sich auf den von ihm gelehrten radikalen Egalitarismus (vollkommene Gleichheit in der menschlichen Gesellschaft; C.P.) einzulassen. Jesus verkündet also das Reich Gottes nicht als bevorstehendes Ereignis, sondern als jederzeit gegebene Möglichkeit. (John Dominic Crossan, Was Jesus wirklich lehrte. Die authentischen Worte des historischen Jesus, aus dem Englischen von Peter Hahlbrock, Verlag C. H. Beck, München 1997, 170)
Für Rudolf Bultmann erfüllt diese Perikope in geradezu klassischer Weise die beiden wichtigsten Kriterien, die ihre Echtheit, also ihren jesuanischen Ursprung, zumindest sehr wahrscheinlich machen: „Die erste grundlegende Beobachtung ist die, dass jüdisches Gut von der christlichen Tradition übernommen und Jesus in den Mund gelegt ist.“ (Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1970, 8. Auflage [ = 2. Auflage 1931], S. 132, Hervorhebung im Original) Das ist in Lukas 17,21 und anderen Jesusworten jedoch nicht der Fall: „mit ihrer Ablehnung der apokalyptischen Berechnung heben sie sich von den typischen Endweissagungen und Mahnungen ab, so dass jüdischer Ursprung für sie wenig wahrscheinlich ist.“ (a.a.O. S. 133) Ein zweites Echtheitskriterium ist ein fehlender Bezug auf die Person Jesu und die frühe christliche Gemeinde: Die „Frage nach der Möglichkeit christlichen Ursprungs…wird umsomehr zu verneinen sein, je weniger die Beziehung auf die Person Jesu und auf die Geschicke und Interessen der Gemeinde wahrzunehmen sind“ (a.a.O. S. 135). Auch dieses Echtheitskriterium wird für Bultmann u.a. in Lukas 17,21 erfüllt (ebd.). Er hält Lukas 17,20f. mit Ausnahme der sekundären Einkleidung denn auch für echt (a.a.O. S. 24.128).
Allerdings verkennt Bultmann völlig den eindeutig präsentischen Charakter der Aussage Jesu und erweist sich darin als befangen in jahrhundertealter, von der nachjesuanisch-paulinischen Eschatologie bestimmter Tradition, die das Zentrum der Botschaft Jesu, die Präsenz des Reiches Gottes, nie in den Blick bekommen hat. Er fasst die Aussageintention mit den Worten zusammen: „wenn das Reich Gottes kommt, wird man nicht mehr fragen und suchen, sondern mit einem Schlage ist es inmitten der Toren da, die noch sein Kommen berechnen wollten“ (S. 128). Nicht, wie bei Jesus, auf der Präsenz des Reiches Gottes liegt für ihn der Ton, vielmehr vermutet er ihn in der Plötzlichkeit, dem Überraschungseffekt, mit dem das Reich Gottes unberechenbar und unerwartet Realität werden wird, wovon allerdings in Lukas 17,21 gar nicht die Rede ist, wo, wie gesagt, gerade nicht futurisch, sondern ganz im Gegenteil und mit Bultmanns Exegese unvereinbar präsentisch formuliert wird.