Matthäus 5,3 / Lukas 6,20b
Die Worte „(die Armen) im Geist“ gehen auf das Konto des Matthäus. Andererseits ist die direkte Anrede der „Armen“ bei Lukas wohl sekundär.
Bisher geht man in der neutestamentlichen Wissenschaft stets davon aus, dass die ersten drei Seligpreisungen der Spruchquelle, also die Seligpreisungen der Armen, der Weinenden und der Hungernden (Matthäus 5,3.4.6 sowie Lukas 6, 20b.21), von Jesus selber stammen1. In der ursprünglichen Fassung der Logienquelle dürften sie folgendermaßen gelautet haben:
Selig sind die Armen,
ihrer ist das Reich Gottes.
Selig sind die Hungernden,
denn sie werden satt werden.
Selig sind die Weinenden,
denn sie werden lachen.
Dass Jesus bei Lukas die Armen, Hungernden und Weinenden direkt anspricht („Selig seid ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes…“), resultiert wahrscheinlich aus einer erst nachträglich vorgenommenen Umformung (vgl. Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1964, 6. Auflage, S. 114; Helmut Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, Würzburg 1981, 2. Auflage, S. 49 mit Anm. 13). Die spiritualisierende Hinzufügung „im Geist“ („die Armen im Geist“) geht auf das Konto des Matthäus. Nach „ihrer“ („ihrer ist das Reich Gottes“) müsste in der Übersetzung eventuell sogar ein „allein“ hinzugefügt werden, denn wahrscheinlich hat das vorangestellte „ihrer“ (grieschisch: autōn) exklusiven Sinn (vgl. Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, S. 118: „Das Semitische lässt das einschränkende ‚nur‘ häufig auch da fort, wo es für unser Sprachgefühl nicht entbehrt werden kann, es muss deshalb öfter bei der Übersetzung ergänzt werden. So auch hier…“. Matthäus‘ hat, dem synagogalen Sprachgebrauch seiner Gemeinde entsprechend, auch hier das ursprünglichere „Reich Gottes“ durch „Reich der Himmel“ ersetzt (vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn 1985, 144f.). Lukas verstärkt den Gegensatz zwischen dem jetzigen Zustand des Hungerns bzw. Weinens gegenüber der Zusage seiner späteren Umkehrung durch die jeweilige Hinzufügung des Wörtchens „jetzt“: „Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert…“. „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint“.
Doch betrachten wir diesen Text genauer2. Es fällt sofort auf, dass die beiden letzten Seligpreisungen – der Hungernden und der Weinenden – sprachlich und inhaltlich völlig gleichartig aufgebaut sind. Sie stimmen nicht nur – natürlich mit Ausnahme des Subjekts und der Art der Verheißung – wörtlich überein, sondern auch darin, dass zum einen der jeweils erste Halbvers von der Gegenwart, der zweite von der Zukunft spricht und zum anderen beide Male ein gegenwärtiger und ein zukünftiger Zustand einander polar entgegengesetzt werden: (jetzt) hungern, (dann) satt werden; (jetzt) weinen, (dann) lachen.
Demgegenüber wird in der ersten Seligpreisung im ersten Halbvers statt einer Partizipialfom ein Nomen verwendet. Außerdem steht der zweite Halbvers ausdrücklich in der Gegenwart. Wörtlich heißt es: „Ihrer ist das Reich Gottes“. Dieses Wörtchen „ist“, das eine Zuordnung bezeichnet, entfällt im Griechischen normalerweise. Die Tatsache, dass es hier ausnahmsweise im Text erscheint (estin), zeigt, dass gerade der zeitliche Aspekt hier mit ganz besonderem Nachdruck hervorgehoben werden soll: Die Armen haben tatsächlich – jetzt schon! – teil am Reich Gottes.
Aus all dem ergibt sich zwingend, dass die erste Seligpreisung eine eigenständige Einheit darstellt und unter allen Umständen unabhängig von den beiden folgenden Seligpreisungen, die wiederum ein eigenständiges Zwillingspaar bilden, interpretiert werden muss. Allerdings liegt schon jetzt die Vermutung nahe, dass die Seligpreisung der Armen kaum von Anfang an mit den Seligpreisungen der Hungernden und Weinenden verbunden gewesen sein dürfte. Dies ist vor allem deshalb so nachdrücklich zu betonen, weil gerade die Verklammerung der ersten mit den beiden folgenden Seligpreisungen3 immer wieder zu gravierenden, den Wortlaut in sträflicher Weise außer Acht lassenden, von den beiden folgenden Seligpreisungen beeinflussten Fehldeutungen der Seligpreisung der Armen geführt hat und führt, und zwar in zweifacher Hinsicht:
Erstens: Aufgrund der futurisch formulierten zweiten Halbverse der zweiten und dritten Seligpreisung wird stets angenommen, dass den Armen das Reich Gottes für die Zukunft verheißen wird4. Tatsächlich aber spricht Jesus den Armen das Reich Gottes jetzt schon zu. Ganz ausdrücklich und ungewöhnlich deutlich, siehe oben, heißt es: „ihnen gehört (wörtlich: ihnen ist) das Reich Gottes“. Die Armen sind schon jetzt des Reiches Gottes teilhaftig.
Zweitens: Ganz offensichtlich also haben die Armen am Reich Gottes teil, weil sie arm sind. Das aber kann nur bedeuten, dass der Begriff Armut hier nicht als negative Größe im Sinn eines Mangels gemeint sein, sondern positiv, nämlich im Sinn eines Ideals, verstanden werden muss. Dass die Seliggepriesenen angeblich an einem negativen Zustand leiden, haben wieder die beiden folgenden Seligpreisungen suggeriert und damit den Sinn der ersten Seligpreisung ins glatte Gegenteil verkehrt. In ihnen geht es ja tatsächlich darum, dass ein negativer Zustand durch den entgegengesetzten positiven Zustand später einmal aufgehoben werden wird. Aber so ist es in der ersten Seligpreisung gerade nicht gemeint5.
Keineswegs wird den Armen das Reich Gottes für die Zukunft verheißen, und keineswegs bedeutet das Reich Gottes künftigen Reichtum. Im Gegenteil: Am Reich Gottes haben – und zwar jetzt schon! – nur die Anteil, die zu den Armen gehören! Armut, wie Jesus sie versteht und fordert, hat also nichts mit Elend zu tun und ist streng davon zu unterscheiden. Im Elend leben Menschen, die weniger haben, als sie zum Leben brauchen, die hungern, die verzweifelt sind. Von ihnen spricht die Logienquelle in der Fortsetzung. Nur werden hier – völlig unjesuanisch und seiner Reich-Gottes-Botschaft diamentral zuwiderlaufend – die Hungernden und die Weinenden schlicht auf die Zukunft (oder auf das Jenseits) vertröstet. Für Jesus müssen die „Armen“ Menschen gewesen sein, die nicht mehr besitzen, als sie wirklich brauchen. Weder Elend noch Reichtum sind dem Reich Gottes gemäß. Für Jesus erschließt nur die „Armut“ die Dimension wahren, echten Lebens.
Dem widerspricht auch nicht die Verwendung des griechischen Adjektivs ptōchós („arm“). Zwar bezeichnet es im klassischen Griechisch einen Menschen als völlig mittellos, so dass er gezwungen ist, fremde Hilfe anzunehmen („bettelarm“), während mit pénäs („arm“) derjenige charakterisiert wird, der gerade das Lebensnotwendigste besitzt („bedürftig“). Doch in der frühjüdischen Übersetzungsliteratur werden beide Begriffe meistens synonym verwendet6. Bereits die Septuaginta kennt keine spezifische Differenzierung mehr7.
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 196f.; G. Theißen und A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 20013, 233.
2 Vgl. dazu auch C. Petersen, Selig sind die Armen (Mt 5,3/Luk 6,20b), in: Deutsches Pfarrerblatt 86 (1986), 115–117.
3 Vgl. z.B. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7, Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn (EKK I/1), 1985: „…die zweite und dritte Seligpreisung sind beispielhafte Konkretisierungen der ersten“ (204).
4 In allen drei Seligpreisungen interessieren „ausschließlich die Zukunft, welche die Gegenwart überwindet“, meint H. Merklein (Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, Würzburg 19812, 50). „Auch in der ersten Seiligpreisung Lk 6,20 par ist die Basileia eine zukünftige Größe, wie die Futura in V. 21 bestätigen“ (ebd. 116). „Die Herrschaft Gottes wird als zukünftig erwartet“; Begründung: „die Hungernden werden gesättigt werden“ (Hervorhebung im Original), heißt es bei L. Schottroff/W. Stegemann (Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen, Stuttgart, Berlin/Köln/Mainz19812, 31). „Die Apodosis des ersten Makarismus führte im Aramäischen wohl kein Verb. Also ist gemäß der zweiten und dritten Seligpreisung eine futurische Aussage zu ergänzen“, spekuliert J. Becker (Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 197).
5 Wieder einige Beispiele für dieses gravierende Missverständnis: J. Jeremias interpretiert: „Die Armen“ (er denkt dabei an „Bettler und Sünder“, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 118) „stehen Gott nahe. Denn die eschatologische Umkehr der Verhältnisse beginnt sich zu realisieren: die Armen werden reich.“ (ebd. 213) Auch für E. Schweizer werden „im Himmel alle Verhältnisse umgekehrt, die Armen also reich und die Reichen arm sein“ (50). Nach H. Merklein haben alle drei Seligpreisungen „eine Aufhebung des im ersten Glied genannten Zustandes zum Inhalt“ (a.a.o. [vgl. Anm. 4] 50). Genauso L. Schottroff, W. Stegemann: „Dieses elende Leben kommt nicht aus der Hand Gottes. Gott macht demnächst Schluss mit dieser Unordnung. Er wird herrschen, dann sind der Hunger und das Leiden an der Armut vorbei.“ (a.a.o. [vgl. Anm. 4], 32) J. Becker bemerkt zu Lukas 6,20f.: „…alle sonstigen Mangelsituationen (werden) ein Ende haben…: Armut, Nahrungsmangel und alle Lebenserfahrung, auf die der Mensch mit Weinen zu reagieren pflegt, werden von der Gottesherrschaft überwunden und ins Gegenteil gekehrt“ (a.a.o. [vgl. Anm. 1] 173); ähnlich G. Theißen, A. Merz: „Armut, Hunger und Leid sind keine positiven Qualitäten. Vielmehr greift Gott…zugunsten der Armen und Schwachen ein, so dass sich ihr Geschick bald zum Guten wenden wird“ (a.a.o. [vgl. Anm. 1] 233).
6 Vgl. E. Bammel, Art. ptōchós B., in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) VI, 894.
7 Vgl. F. Hauck, Art. pénäs, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) VI, 39.