Exkurs 5
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Das Unableitbarkeitskriterium – unverzichtbares und sinnvolles Mittel zur Identifikation der echten Jesusworte
Dass keineswegs alle Worte, die die Evangelien des Neuen Testaments von Jesus überliefern, tatsächlich von ihm selber stammen (können), sehr viele ihm vielmehr erst nachträglich zugeschrieben beziehungsweise in den Mund gelegt worden sind, ist heute unumstritten und bedarf keiner Begründung mehr. Letzteres gilt nicht nur für sämtliche Worte und Reden Jesu, die das Johannesevangelium enthält – dass sich das vierte Evangelium grundlegend von den ersten dreien unterscheidet, erschließt sich jedem Leser im Grunde sofort –, sondern auch für den weit überwiegenden Teil der Jesusworte im Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium. Wie ist es dennoch möglich, der originären Verkündigung Jesu von Nazaret auf die Spur zu kommen?
Um die mit hoher Wahrscheinlichkeit authentischen Jesusworte aus ihrem (sie oftmals sehr stark verfremdenden) Kontext isolieren zu können, kommt in der neutestamentlichen Wissenschaft neben dem Kohärenzkriterium – die als authentisch angesehenen Texte dürfen sich inhaltlich nicht widersprechen, sondern müssen untereinander zusammenstimmen oder wenigstens in Beziehung zueinander stehen – dem Unableitbarkeitskriterium (auch Unähnlichkeits- oder Differenzkriterium genannt) eine herausragende, ja eine entscheidende Bedeutung zu. Entwickelt hat es der Neutestamentler Ernst Käsemann (1906–1998), der es in folgender Weise definiert: „Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann“ (Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, Exegetische Versuche und Besinnungen I, S. 187–214 [205]). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gehen demnach diejenigen Worte auf den historischen Jesus zurück, die sich einerseits von den Lehren des zeitgenössischen Judentums abheben und sich andererseits auch nicht aus der Situation der frühchristlichen Gemeinden heraus erklären lassen. In der wissenschaftlichen Sprache werden sie „ipsissima verba“ genannt, also „Worte, die höchstwahrscheinlich von Jesus selbst gesprochen worden sind“.
Schon beim zweiten der Jesusworte, dem Logion vom neuen Stoff und neuen Wein, ist es Jesus selbst, der seine Botschaft als „unableitbar“, also als mit bestehenden Mustern oder Kategorien nicht kompatibel bezeichnet. Sie sei etwas ganz und gar anderes und Neues.
Claus Petersen
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