Kapitel 12

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

„Der Sabbat ist für den Menschen da.“

Der Sinn des Sabbats (Markus 2,27)

Das dritte der 21 Jesusworte

 

In den Versen 21 und 22 (ohne den erst später hinzugefügten Abschluss) des 2. Kapitels des Markusevangeliums hatte Jesus nachdrücklich hervorgehoben, dass das Neue mit dem Alten nicht kompatibel, also in keiner Weise mit dem Alten in Einklang zu bringen ist, sondern eine ganz andere Kategorie darstellt. Und wir hatten angemerkt, dass Jesus dabei vermutlich religiöse Vorstellungen und Bräuche im Blick hatte. Bei der Fastenfrage war jedenfalls genau dies der Fall. Seine Korrektur besagte: Nicht das Fasten hat religiöse Qualität, sondern ganz im Gegenteil das (gemeinsame) Essen und Trinken, das niemanden ausschließt.

Wenige Verse weiter spricht Jesus erneut eine religiöse Verpflichtung an, die mit Vorschriften, Einschränkungen und Zwang verbunden war: die Sabbatruhe. Sie war eines der wichtigsten Merkmale der jüdischen Religion. Eine Fülle von Ge- und vor allem Verboten sollten dafür sorgen, dass der siebte Tag der Woche tatsächlich ein Ruhetag ist, ein Tag, der von aller Arbeit kleinlichst freigehalten wird. Anders als das Fasten lehnt Jesus diese religiöse Tradition nicht ab, sondern erweckt den Feiertag mit einer kompromisslos-radikalen, zugleich aber auch wohltuenden und befreienden Grundsatzerklärung geradezu neu zum Leben:

 

Der Sabbat ist für den Menschen da
und nicht der Mensch für den Sabbat.

 

Was für ein Wort! Einprägsam und durch die kreuzweise Anordnung der beiden Hauptbegriffe „Sabbat“ und „Mensch“ in den beiden Satzteilen in unübertrefflicher Klarheit formuliert: So ist es richtig, und anders ist es verkehrt. Denn dahin hatte sich der Sabbat inzwischen entwickelt: zu einem Tag, der mit seinem religiös begründeten Reglement die Menschen einengt, ihnen eine Art Zwangsjacke anlegt, ihr Verhalten kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert, sodass sich sein eigentlicher Charakter ins glatte Gegenteil verkehrt hat. Wie aber hat sich Jesus die ursprüngliche Intention dieses Tages erschlossen, die er gleich im ersten Satzteil so klar und so unmittelbar einleuchtend zum Ausdruck bringt? Alles spricht dafür, dass dies nur aufgrund seiner völlig neuen Welt-Religion geschehen konnte, besteht deren Kern doch darin, das Leben hier und jetzt zu feiern und alles daranzusetzen, dass dieses Fest auch gelingt. Und genau dies macht für Jesus den Sinn des Sabbats aus. Auch dieses Wort also ist ein Beispiel für sein ganz und gar neues basileiologisches Evangelium.

Sicherlich ist Jesus nicht nur mit Worten dafür eingetreten, dass dieser besondere siebte Tag der Woche für den Menschen da ist, gemacht ist, eingerichtet worden ist, wie es ganz wörtlich heißt, also einmal von den Menschen zu diesem Zweck institutionalisiert wurde. Er muss auch selbst diesen Tag so begangen haben, wie er es für gut und richtig hielt, ohne sich durch fremdbestimmte Vorgaben einschränken zu lassen. Darauf angesprochen, wird er eben mit den obenstehenden Worten sein Verhalten erklärt und begründet haben. Was genau man ihm vorgeworfen hat, lässt sich historisch nicht mehr feststellen und ist auch nicht von Belang. Die Sabbatheilungen, von denen mehrfach in den Evangelien des Neuen Testaments die Rede ist, enthalten keine geschichtlichen Informationen, sondern veranschaulichen, wie alle anderen Wundererzählungen auch, die gottähnliche Stellung Jesu. Das basileiologische Evangelium Jesu war längst in den Hintergrund gerückt und wurde bereits vom „christologischen Evangelium“ überschrieben.

Doch auch das höchstwahrscheinlich authentische Jesuswort zum Sabbat bereitete Probleme, und zwar eben wegen seiner basileiologischen, auf die Botschaft vom richtigen Leben hier und jetzt bezogenen Ausrichtung. Auch dieses Wort hegte man – wie schon jenes zur Fastenfrage – umständlich ein. Ähnlich wie dort geht ihm eine Anfrage voraus, die hier allerdings, der Thematik entsprechend, nicht wie dort von nicht näher bestimmten Personen, sondern von den als besonders gesetzestreu geltenden Pharisäern vorgebracht wird. Und auch sie betrifft nicht direkt das Verhalten Jesu, sondern das seiner Jünger. Während jener mit ihnen am Sabbat durch Saatfelder gegangen sei, hätten seine Jünger verbotenerweise Ähren abgerissen (Vers 23 und 24). In den folgenden beiden Versen wird Jesus eine Antwort in den Mund gelegt, die – im Widerspruch zu dem dann folgenden authentischen Jesuswort – belegen soll, dass sich die Jünger durchaus gesetzeskonform verhalten haben: „Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und hungerte, er und die, die bei ihm waren? Wie er in das Haus Gottes ging zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und die Schaubrote aß, die nur die Priester essen dürfen, und auch denen davon gab, die bei ihm waren?“ In 1. Samuel 21,1–7, worauf sich diese Worte beziehen, ist es allerdings nicht Abjatar, sondern der Priester Abimelech, der David die Schaubrote zur Verfügung stellt. Außerdem ist dort mit keinem Wort vom Sabbat die Rede. Vermutlich ist derjenige, der diesen Erklärungsversuch ersann, davon ausgegangen, dass den Jüngern nicht in erster Linie eine Übertretung der Sabbatvorschriften, sondern das Essen fremden Eigentums vorgeworfen wurde. Dass diese Jesus zugeschriebene Rede (und wahrscheinlich auch der Anlass, das Ährenausraufen der Jünger) dem eigentlichen Jesuswort erst nachträglich vorangestellt worden ist, gibt neben den schweren inhaltlichen Problemen auch der Neueinsatz in Vers 27 deutlich zu erkennen. Der jetzt folgende und tatsächlich von Jesus stammende Satz wird nämlich durch die Worte „Und er sagte zu ihnen“ noch einmal eigens eingeleitet und dadurch deutlich von jenem Schriftbeweis abgesetzt. Und doch verliert das Jesuswort durch dieses Manöver sein Eigengewicht – von der Problematik, Jesus auch an dieser Stelle Sätze unterzuschieben, mit denen er selbst sein Evangelium verdunkelt, einmal ganz abgesehen.

Und dies gilt ebenso für das Wort, das auf Vers 27 noch folgt. Offenbar erkannte man schon bald die religiöse Qualität auch dieses Jesusworts nicht mehr, hatte seine Botschaft vom richtigen Leben hier und jetzt aus dem Blick verloren, die ihn zu diesem Wort über den Sabbat veranlasst hat. Längst hatte das „christologische Evangelium“ die Oberhand gewonnen, und so wurde dem Jesuswort schon im ältesten erhaltenen Evangelium, dem des „Markus“, ein kommentierender Zusatz angehängt, mit dem Jesus scheinbar selbst jenes andere „Evangelium“ proklamiert: „So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“ (Vers 28) Noch stärker als durch den längeren ihm vorausgehenden Text büßt das Jesuswort durch diesen es jetzt abschließenden Satz seine Eigenständigkeit und mit ihr seine alle Menschen betreffenden und von ihnen einzulösenden Anspruch ein. Durch die fast gewaltsame, mit dem vorangehenden Jesuswort in einer nicht wirklich einleuchtenden Beziehung stehenden Hinzufügung dieses verfremdenden Zusatzes ist nicht mehr das „Reich Gottes – jetzt“, sondern die Verherrlichung der Macht des Menschensohns der eigentliche Sinn des Sabbatworts. Und „Markus“ vermittelt den Eindruck, es sei Jesus selbst, der seinen Ausführungen über den Sabbat diese völlig unerwartete, ja geradezu abwegige Deutung unterstellt. Aber nur auf diese schon fast brutale Weise konnte „Markus“ seinen Appell unterstreichen, der nach Kapitel 1,1 für ihn das „Evangelium“ schlechthin ausmacht, nämlich Jesus als den Christus und Gottessohn anzuerkennen. „Nicht nur die Kühnheit von 27 war der Anlaß, daß man einen christologischen Satz anfügte, sondern auch seine Allgemeinheit und die Tatsache, daß er einer späteren Traditionsstufe zu wenig christlich erschien.“ (Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband Mk 1–8,26. EKK II/1, 1978, S. 124) An die Stelle der Botschaft von der heilsamen Funktion des Sabbats ist die Person des Botschafters getreten, der hier angeblich sich selbst den Hoheitstitel „Menschensohn“ zuspricht und mit seiner Neudefinition des Sabbats seine Macht unter Beweis stellt. Kein Leser, keine Leserin nicht nur der damaligen Zeit, sondern auch der folgenden Jahrhunderte konnte noch ahnen, dass das Wort ursprünglich ganz anders gemeint gewesen war.

Doch es kommt noch schlimmer – natürlich nicht für die Vertreter des postjesuanischen „christologischen Evangeliums“, wohl aber aus der Sicht derer, für die das jesuanische Evangelium zum Lebenselixier geworden ist: Matthäus und Lukas, denen jeweils unter anderem das Markusevangelium vorlag, als sie ihr eigenes Evangelium verfassten, übernahmen – neben dem dem Jesuswort vorangehenden Teil, der von Matthäus noch durch zwei weitere alttestamentliche Belege ergänzt worden ist – schließlich nur noch diesen Zusatz. Das Jesuswort selbst taucht in ihren Evangelien schon gar nicht mehr auf. Damit wurde es nicht mehr „nur“ umgedeutet, ist aber, jedenfalls für uns heute, jedenfalls noch auffindbar, sondern bereits vollkommen eliminiert. Auch hier also können wir direkt beobachten, wie die Jesusbotschaft zurückgedrängt beziehungsweise überschrieben wird und schließlich ganz der Vergessenheit anheimfällt. Gerade diese Vorgänge aber, die Erweiterungen einerseits, die Elimination durch „Matthäus“ und „Lukas“ andererseits, sind, abgesehen vom Inhalt, sehr deutliche Hinweise darauf, dass uns in Markus 2,27 tatsächlich und glücklicherweise jedenfalls in diesem einen neutestamentlichen Evangelium ein weiteres authentisches Jesuswort überliefert ist.

Claus Petersen

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