Kapitel 14
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
„Alles Übrige aber fällt auf guten Boden.“
Das Gleichnis von der Aussaat (Markus 4,3–8)
Das vierte der 21 Jesusworte
Ein wenig später, im 4. Kapitel des Markusevangeliums, weckt eine kleine, sehr anschaulich formulierte und zielgerichtete Erzählung unsere Aufmerksamkeit. Bezieht sie sich eventuell auch auf die Jesusbotschaft?
Ein Sämann ging hinaus, um zu säen.
Beim Säen geschah Folgendes:
Einiges fiel auf den Weg;
und es kamen die Vögel
und fraßen es auf.
Anderes fiel auf Steine;
und als die Sonne aufging,
wurde es versengt.
Wieder anderes fiel unter Dornpflanzen;
und die Dornpflanzen wuchsen auf
und erstickten es.
Alles Übrige aber fällt auf guten Boden;
und es gibt Frucht,
nachdem es aufgegangen und gewachsen ist,
und trägt dreißigfach.
Nach „Anderes fiel auf Steine“ wurde wahrscheinlich in einem späteren Überlieferungsstadium der erklärende Zusatz eingeschoben: „wo es nicht viel Erde gab; und sogleich ging es auf, weil die Erde nicht tief genug war“ („sogleich“ ist ein Lieblingswort des Markus). – Auch nach „wurde es versengt“ dürften die die Beschreibung des Vorgangs noch einmal wiederholenden und eigentlich unnötigen Worte „und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es“ nachträglich angefügt worden sein. – Die Folgerung „und es gab keine Frucht“ nach „und erstickten es“ ist wohl ebenfalls später, vielleicht im Blick auf den folgenden Satz, ergänzt worden. – Die Steigerung des Schlussworts „dreißigfach“ durch das folgende „und sechzigfach und hundertfach“ gehört ebenfalls nicht zum ursprünglichen Gleichnis. Wie wir noch sehen werden, widerspricht es sogar seiner Aussageabsicht und ist erst später angehängt worden.
Sollten diese Worte auf Jesus von Nazaret zurückgehen, wäre zu fragen, warum er hier an einen Vorgang erinnert, der seinen Mitmenschen ja durchaus nicht fremd gewesen ist. Viele kannten das, was er hier schildert, wahrscheinlich sogar aus eigener Erfahrung. Es müsste dann, im übertragenen Sinn, mit seinem Anliegen, mit seiner Sache zu tun haben.
Betrachten wir also diese Worte etwas genauer. Wie gesagt, es handelt sich um ein im damaligen Palästina ganz alltägliches Geschehen: Da geht ein Mensch über ein nach damaligem Brauch noch ungepflügtes Feld, um zu säen. Dass dabei einiges von dem ausgestreuten Samen nicht zur Reife kommt, ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Säens. Das auf den Weg Gestreute holen sich sofort die Vögel, das auf die Steine Gefallene bleibt zwar etwas länger liegen, dann aber versengt es die Sonne, das unter die Dornpflanzen Geratene geht zunächst zwar auf, schlussendlich aber durch sie zugrunde. Doch der größte Teil der Aussaat kommt zur Reife und bringt Frucht. Jede Ähre trägt 30 Körner, was dem Durchschnitt entspricht. Nichts im Gleichnis ist außergewöhnlich. Alles ist völlig selbstverständlich. Es ist gerade keine Wundergeschichte, die Ähren tragen eben nicht auch sechzigfach oder gar hundertfach – zielte die Geschichte darauf ab, wäre der „Normalfall“ wahrscheinlich gar nicht erwähnt worden.
Sehr ausführlich und detailreich schildert Jesus die Vergeblichkeit eines Teils der Aussaat, ausführlicher als es dem – eher geringen – Anteil dieses nicht zur Reife kommenden Saatguts an der gesamten Aussaat entspricht. Kann etwas anderes gemeint sein als die Erfahrungen, die seine Leute – und er selbst – immer und immer wieder hatten machen müssen? Hatten sie nicht fest damit gerechnet, ja sind sie nicht davon ausgegangen, dass ihre neue Art zu leben andere sofort anstecken musste? Doch ihre sie so sehr beseligende Existenzweise fiel durchaus nicht überall auf fruchtbaren Boden.
Aber damit endet die Geschichte von der Aussaat noch nicht. Dies ist noch nicht alles, was jener Sämann erlebt. Auch wenn die Möglichkeiten des Scheiterns der Aussaat einen so breiten Raum einnehmen – seinen Zielpunkt erreicht das Gleichnis erst am Schluss. Darauf weisen schon sprachliche Auffälligkeiten hin. Statt mit „und anderes“ wie der zweite und in derselben Weise der dritte Abschnitt des ausführlichen ersten Teils eingeleitet wird, setzt der Schlussteil mit einer etwas anderen Formulierung noch einmal neu an. Dem versucht die Übersetzung durch die Formulierung „alles Übrige aber“ zu entsprechen. Und nur hier stehen die beiden Verben im zweiten Versteil nicht im sogenannten Aorist, im Griechischen eine Zeitform, die ein Ereignis in der Vergangenheit bezeichnet, sondern im Imperfekt (zur Unterscheidung werden sie hier im Präsens wiedergegeben). Das Fruchtbringen und Ährentragen dauert gleichsam immer noch an. Die vierte Szene setzt also die Schilderung des Schicksals der Aussaat nicht einfach fort, fügt dem allen nicht einfach eine weitere Möglichkeit hinzu, bedeutet auch nicht eine bloße Steigerung des vorher Erzählten. Sie steht vielmehr in deutlichem Kontrast zu den vorangehenden Versen. Im Gegensatz zu ihnen fällt der Same jetzt auf guten Boden und trägt vielfältige Frucht. Der Schwerpunkt der Geschichte liegt damit sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen eindeutig auf dem letzten Abschnitt. Nicht auf den Misserfolg soll sich das Augenmerk richten. In den Blick zu nehmen ist vielmehr all das, was bereits und immerzu – nicht nur aufgegangen und gewachsen, sondern, es steht hier gleich an erster Stelle – Frucht trägt. Für Jesus kann es, wie bei jeder Aussaat, gar nicht anders sein.
Gerade vor dem dunklen Hintergrund des ersten Teils, der so breiten Raum einnimmt, erstrahlt das Ende umso heller: Das Allermeiste ist eben doch aufgegangen und trägt – vielfache! – Frucht. Aber auch dies ist eben ganz normal. Manche Impulse werden sofort torpediert, manches erscheint umsonst, manches geht nach ersten guten Ansätzen doch wieder verloren. Aber all das bildet keinerlei Anlass zur Beunruhigung. Es sind die üblichen Begleiterscheinungen, die hinzunehmen sind. Doch die vielfache Dynamik des Aufgehens, Wachsens und vor allem des auch im griechischen Original gleich zu Beginn festgestellten Fruchttragens wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Nicht jeder Samen fällt auf guten Boden. Man kann und darf darüber nicht hinwegsehen. Aber das alles ist überhaupt kein Grund zu resignieren. Viel, viel wichtiger ist doch das andere: dass der mit Abstand größte Anteil des Saatguts „dreißigfache“ Frucht trägt, wie ganz zum Schluss noch einmal nachdrücklich unterstrichen wird. Und auch dies ist ganz „normal“. Am Ende steht nach der Schilderung des auf dreifache Weise vergeblichen Ausbringens eines kleinen Teils der Aussaat der dreißigfache Ertrag des gesamten Restes.
So wie der Same ausgesät werden muss, wenn die Zeit dafür reif ist, so ist jetzt die Zeit gekommen, anders, wahrhaft, echt und richtig zu leben, eben genau so, wie es der Erde, wie es der Welt, zu der wir gehören und deren Teil wir sind, entspricht. Als ob sie auf diese „Aussaat“ geradezu wartet – auch diese Gewissheit kann man den Worten Jesu entnehmen. Er muss fest davon überzeugt gewesen sein, dass die neue Existenzweise, die sein Evangelium eröffnet, unaufhaltsam immer weitere Kreise ziehen wird, ja ziehen muss. Dass Widerspruch nicht ausbleibt, dass es dabei zu Durststrecken kommt, dass manchmal sogar das Alte wieder die Oberhand zu gewinnen scheint, all das fällt letztlich, so deprimierend es im Augenblick auch sein mag, nicht ins Gewicht. Wie eine standortgemäße Pflanze wird dieser neue, richtige, weil weltverbundene Lebensstil überall Wurzeln schlagen.
Im Neuen Testament ist allerdings auch dieser Text seiner Eigenständigkeit beraubt, auch ihm ist eine ihm ursprünglich völlig fremde Bedeutung und Intention unterstellt worden. Sowohl im Markusevangelium als auch bei „Matthäus“ und „Lukas“ folgt zunächst eine höchst befremdliche, verstörende, ja abwegige, mit Sicherheit Jesus erst nachträglich in den Mund gelegte Erklärung zu seinen Gleichnissen: Für seine Anhängerschaft enthielten sie das „Geheimnis des Reiches Gottes“, alle anderen sollten sie zwar hören, aber nicht verstehen, damit sie daraus nicht etwa die richtigen Konsequenzen zögen. Und dann folgt eine Erklärung des Gleichnisses von der Aussaat, die wieder bedenkenlos auf Jesus selbst zurückgeführt wird, aber ganz eindeutig aus der Zeit der frühen Gemeinde stammt, in denen der ursprüngliche Reich-Gottes-Kontext längst aus dem Blickfeld geraten ist. Sie bezieht es nicht auf die neue, „Reich-Gottes“-gemäße Existenzweise, sondern auf die Wirkung der frühkirchlichen Missionspredigt und deutet es allegorisch: Der Same ist jetzt das Wort, und das „vierfache Ackerfeld“ steht für vier unterschiedliche Konsequenzen, die das Hören der Predigt zur Folge haben kann. Jetzt geht es um den Glauben und nicht mehr um das Leben, um die innere Umkehr und nicht mehr um die Welt. In der neutestamentlichen Wissenschaft ist völlig unbestritten, dass sowohl die Ausführungen zum Zweck der Gleichnisse in den Versen 11 und 12 als auch die in den Versen 14 bis 20 folgende Deutung des Gleichnisses von der Aussaat erst in nachjesuanischer Zeit formuliert worden sind. Gerade aber seine spätere Umdeutung spricht entschieden für die jesuanische Herkunft des Gleichnisses selbst.
Claus Petersen
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