Kapitel 17

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:

Unsere Schwester Mutter Erde: eine Wunderwelt

 

 

Diese Metaphern stammen aus dem berühmten „Sonnengesang“ des Franz von Assisi. Man könnte das Lied auch – oder vielleicht sogar besser? – einen „Erdgesang“ nennen (die Titel, unter denen es überliefert ist, sind nicht eindeutig, der wahrscheinlich älteste lautet „Laudes creaturarum“, „Lobgesänge der Geschöpfe“). Zwar beginnt es mit dem besonderen Lob des Herrn Bruder Sonne, es folgen Schwester Mond und die Sterne, Bruder Wind, Schwester Wasser und Bruder Feuer, aber dann, am Ende der Aufzählung der Elemente, wird die Erde nicht nur „unsere Schwester“, sondern darüber hinaus auch „Mutter“ genannt (sora nostra matre terra). Mit ihr sind wir Menschen demnach auf eine unvergleichlich-einzigartige Weise verwandt, enger noch und unmittelbarer als mit unseren „Geschwistern“. Franziskus erkennt der Erde in seinem Lied damit zugleich ihren alten Ehrentitel wieder zu, wie er aus der Antike bekannt und in vielen Naturreligionen geläufig ist. „Pacha Mama [„Mutter Erde, Mutter Welt, Mutter Kosmos“; C.P.] ist alles für mich, meine Mitte, mein Geist, die Erde“, sagt Cenaida Guachagmira, indigene Umweltaktivistin in Ecuador (Frankfurter Rundschau, 4. März 2022), die sich für die Durchsetzung der ecuadorianischen Verfassung einsetzt, deren 71. Artikel lautet: „Die Natur oder Pacha Mama, in der sich alles Leben erneuert und realisiert, hat ein Recht darauf, dass ihre Existenz sowie die Erhaltung und Regeneration ihrer Lebenszyklen vollständig respektiert werden.“

Die Erde hat uns hervorgebracht, wir gehören ihr zeitlebens an, zu ihr werden wir wieder werden. „Zwei Tage vor seinem Tod hatte sich Franziskus schon, wie bei einer Generalprobe, nackt auf die Erde legen lassen. Nackt auf der Erde liegend wollte er sterben“ (Helmut Feld; Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, S. 316) „Reerdigung“ nennt sich eine neue Bestattungsart. Wir Menschen sind „Erdlinge“. Der lateinische Begriff für Mensch, homo, ist mit dem lateinischen Wort für Erde, Erdboden, Boden, humus, verwandt. Im Hebräischen heißt Mensch adám, die Verwandtschaft mit dem Wort für Erde, Ackerboden, adamā, ist unüberhörbar. „Jahwe Gott bildete den Menschen (adám) aus Staub vom Erdboden (adamā)“, heißt es im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose und später im dritten Kapitel: „bis du wieder zur Erde (adamā) zurückkehrst/zu Erde wirst, denn von ihr bist du genommen“.

So leben wir nicht nur auf der Erde, so erschöpft sich unsere Beziehung zu ihr auch nicht in einem Rechtsakt, sondern wir gehören ihr selbst an. Wir sind ein Teil von ihr. Was ihr geschieht, das geschieht auch uns. Haben Sie schon einmal, vielleicht im Fernsehen, gesehen, wie riesige, tonnenschwere, in hohem Tempo dahinrasende Panzer bei einem Manöver die Erde mit ihren Ketten aufreißen und zerwühlen – und dabei selbst so etwas wie Schmerz empfunden? Und liegt es nicht an derselben Erdverachtung, wenn Abfälle achtlos auf den Boden geworfen werden, zum Beispiel etwa 4,5 Billionen Zigarettenkippen im Jahr beziehungsweise zwölf Milliarden pro Tag, die die Erde mit rund 7000 giftigen Substanzen belasten? Andererseits: Ökologisch bewirtschaftete Felder, Wiesen und Obstplantagen werden weder künstlich gedüngt noch mit umweltschädlichen Pestiziden traktiert. Ergibt sich daraus nicht als selbstverständlicher Ausdruck unserer Erdverbundenheit, soweit irgend möglich nur noch biologisch angebaute Produkte zu verzehren?

Sorgsam mit der Erde umzugehen tut uns selber gut. Wir werden diese Verbundenheit pflegen – auf ihr zu Hause sein, nur den Platz auf ihr beanspruchen, der uns entspricht, dieses Zuhause auf der Erde unter unseren Füßen spüren, vielleicht selbst auf der Erde etwas pflanzen und ernten, nur so viel von ihr nehmen, wie wir brauchen, die Schönheit und Vielfalt der Erde um uns erkunden und genießen, sie schützen und bewahren.

Und dann zeigt sie sich. Sie zeigt sich denen, die mit ihr leben. Da geschieht etwas, praktisch ohne unser eigenes Zutun, das wir nie für möglich gehalten hätten, und wir können uns nur noch verwundert die Augen reiben. Da ergibt sich aus unserem Lebenszusammenhang, aus unserer Weltverbundenheit heraus das sichere Gefühl, dass da etwas darauf wartet, von uns ausgeführt zu werden; wir setzen es um und es erweist sich als „goldrichtig“. Da kommen Engagement, eine Bürgerbewegung, manchmal sogar eine Revolution beinahe von selbst in Gang, und es ist eine gute Sache, um die es dabei geht. Es ist die Erde, es ist die Welt, die uns damit beschenkt. Als ob sie selbst „mitspielt“, wenn wir als „Erdlinge“ mit ihr und in ihrem Sinn aktiv werden. Sie erweist sich als eine Wunderwelt. Da kommt es im Zusammenhang mit uns, aber im Grunde „automatisch“, wie von selbst, zu Entwicklungen – wir wissen selbst nicht wie –, die uns ganz unerwartet Türen öffnen, die uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind, die uns zu bestätigen scheinen, dass es richtig ist mit unserem Leben, dass wir ein Teil dieser Wunderwelt sein dürfen und genau unseren Platz in diesem großen Zusammenhang einnehmen und ihn ausfüllen. Wer im „Reich Gottes“ lebt, das heißt, in einer lebendigen Beziehung mit der Erde, der nimmt es wahr. Der Mensch, der mit der Erde verbunden bleibt, nur er, weiß manchmal nicht, wie ihm geschieht. Und immer wieder wachsen ihm neue Kräfte zu.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Riesen Antaios in der griechischen Mythologie, Sohn des Poseidon und der Gaia, also des Gottes des Wassers und der Göttin der Erde, der immer neue Kraft erhielt, so oft er die Erde, seine Mutter, berührte. Herakles rang mit ihm, konnte ihn aber erst töten, nachdem er ihn in die Luft gehoben und damit von seiner Kraftquelle abgeschnitten hatte. Aber dasselbe gilt auch umgekehrt: Das erste Kapitel des satirischen Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ von Heinrich Heine endet mit den Versen: „Der Riese hat wieder die Mutter berührt, / Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.“

Every part of this country is sacred to my people. Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. (Aus der berühmten Rede des Häuptlings Seattle vom Januar 1854)

Unvergessen bleibt, wie die koreanische Theologin Chung Hyung Kyung zu Beginn ihres Einführungsvortrags zum theologischen Thema der 7. Vollversamm­lung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra vom 7. bis 20. Februar 1991 das Auditorium einlud, die Schuhe auszuziehen: „Die Urvölker Australiens ziehen auf heiligem Boden die Schuhe aus. Als eine australische Ureinwohnerin, Anne Gray Patel, in meine Kirche nach Korea predigen kam, zog sie ihre Schuhe aus und ehrte damit unseren heiligen Boden. Um ihre Ehrfurcht vor meinem Volk und meinem Land zu erwidern, will ich mich meiner Schuhe entledigen. (…) Auch in unserer christlichen Tradition hat Gott Mose geheißen, vor dem brennenden Busch die Schuhe auszuziehen, um den heiligen Boden zu betreten [2. Mose 3,5] – und Mose tat es. Glaubt ihr, dass ihr es auch tun könnt? Ich möchte euch alle einladen, mit mir den heiligen Boden zu betreten und dazu eure Schuhe auszuziehen.“ Weshalb sie den Boden als „heiliges Land“ empfindet, erläutert sie später mit folgenden Worten: „Die Erde ist nicht tot. Sie lebt und ist erfüllt von schöpferischer Energie. Die Erde ist ein ‚von Gott behauchter‘ und ‚von Gott durchtränkter‘ Ort.“ (Hyung Kyung bezieht sich auf Formulierungen Jay McDaniels. – Der Text ihres Vortrags ist enthalten in: Chung Hyun Kyung, Schamanin im Bauch – Christin im Kopf. Frauen Asiens im Aufbruch, Kreuz Verlag, Stuttgart 1992, S. 17–30)

Noch eine kleine Nachbemerkung: Wie schon mehrfach erwähnt, wurden Jesus schon bald nach seinem Tod sogenannte Hoheitstitel zugesprochen (zum Beispiel „Christus“, „Gottessohn“, „Herr“), die ihn über die Menschenwelt hinaus auf eine göttliche Stufe stellen sollten. Dem 2017 gestorbenen Berner Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti verdanken wir einen ganz anderen Titel, der – gerade auch im Blick auf das Gleichnis von der von selbst Frucht bringenden Erde – gut zu Jesus passt. „Erdmatriot aus Nazareth“, so nennt er ihn im letzten Teil seines Gedichts „Erwählter Planet“ (Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, Radius-Verlag, Stuttgart 2004, S. 12f.), also einen, der emotional nicht mit seiner „patria“, seinem „Vaterland“, sondern mit der Erde, seiner „mater“, seiner Mutter, verbunden ist. Sollte dieser Hoheitstitel nicht auf uns alle anwendbar sein?

Claus Petersen

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