Kapitel 18
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
„Unter seinem Schatten nisten die Vögel des Himmels.“
Das Gleichnis vom Senfkorn (Markus 4,30–32)
Das sechste der 21 Jesusworte
Unmittelbar auf das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (und den später hinzugefügten Vers 29) folgt ein weiteres, ausdrücklich als solches eingeführtes „Reich-Gottes“-Gleichnis. Und wiederum handelt es von dem wunderbaren Wachsen eines ausgesäten Samens, und zwar eines Senfkorns:
Womit könnte man das Reich Gottes vergleichen
oder in welchem Gleichnis könnte man es darstellen?
Es ist wie ein Senfkorn,
das, wenn es auf die Erde gesät wird,
kleiner ist als alle Samen auf der Erde
und, wenn es gesät ist, aufgeht
und größer wird als alle Gartengewächse
und große Zweige treibt,
sodass unter seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.
Das Korn des im Vorderen Orient vorkommenden schwarzen Senfs ist nur einen Millimeter groß und wiegt ungefähr ein Milligramm. Was soll denn aus so einem winzig kleinen, dem Gleichnis zufolge sogar kleinsten Samen überhaupt, schon groß werden? Was ist es denn mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, der sofort verdunstet? Beim Senfkorn liegen die Dinge aber eben anders: Der schwarze Senf mit seinem winzig kleinen Samenkorn kann zu einer eineinhalb bis drei Meter hohen Senfstaude werden. Die Pflanze wird so groß, dass sie geradezu eine Brücke zum Himmel bildet: Die „Vögel des Himmels“, wie es ganz zum Schluss ausdrücklich heißt, nisten unter dem Schatten dieser Pflanze, die sich entwickelt hat aus einem auf die Erde gesäten Samenkorn, das kleiner ist als alle Samen auf der Erde, wie am Anfang erzählt wird.
„Womit könnte man das Reich Gottes vergleichen / oder in welchem Gleichnis könnte man es darstellen?“ Feierlich wie ein Gedicht, eingeleitet in der poetischen Stilfigur des sogenannten Parallelismus membrorum, beginnt diese Erzählung. Mit diesem Terminus bezeichnet man ein charakteristisches Merkmal der semitischen Lyrik, nämlich die enge Zusammengehörigkeit zweier Sätze oder Satzglieder: Der zweite Vers wiederholt das eben Gesagte noch einmal mit anderen Worten (oder erläutert es durch eine gegensätzliche Aussage beziehungsweise ergänzt es durch einen verwandten Gedanken). Wieder, zum dritten Mal, veranschaulicht Jesus die Dynamik, die dem „richtigen“ Leben innewohnt, mit den erstaunlichen, unerwarteten und überwältigen Prozessen, die die Aussaat des Samens zur Folge haben können. Das Allermeiste geht letztlich doch auf und bringt vielfache Frucht, ohne menschliches Zutun sprosst er und wird groß, und in diesem Gleichnis ist aus einem winzig kleinen, ja geradezu allerkleinsten Anfang etwas im Vergleich dazu Riesengroßes hervorgegangen. Wieder ist es die gleich zweimal erwähnte Erde, auf der es sich ereignet, wieder ist es etwas ganz Normales, und doch gleichwohl Erstaunliches, Unerwartetes, Wunderbares. Doch nicht die Größe allein ist es, auf die es hier ankommt, sondern auch auf das, was sie in besonderer Weise charakterisiert und qualifiziert: Die hoch emporgewachsene Senfstaude verbindet die Erde mit dem Himmel. Sie schafft dem Leben, hier ausdrücklich dem außermenschlichen Leben, Raum, schützt es und beschirmt es. Die Vögel des Himmels nisten auf der Erde im Schatten ihrer Zweige. Das ist es, was geschehen kann und auch tatsächlich geschieht, wenn der Same – und sei es nur ein winziges Senfkorn – ausgestreut wird. Das kann sich ergeben und ergibt sich de facto, wenn Menschen ihr Leben auf und mit der Erde wirklich leben, wenn sie – durch ihre Welt-Religion immer wieder daran erinnert – den Zusammenhang, in dem sich ihre Existenz vollzieht, nämlich die Erde, ihre Mit-Welt, niemals aus ihrer Wahrnehmung ausblenden.
Wenn Menschen mit der Erde leben, dann geschieht Ähnliches, wie es der Bauer erlebt, wenn er aus seiner ganz konkret-handgreiflichen Verbundenheit mit dem Ackerboden heraus sein Feld bestellt: Die Saat selbst geht auf, auch wenn das nicht für jedes einzelne Samenkorn gilt; aus dem ausgestreuten Samenkorn wächst – ohne weiteres Zutun – die Pflanze hervor und bringt Frucht. Dieses Gleichnis spielt, zugegeben, mit eine Prise Übertreibung, mit dem eindrucksvollen Kontrast des winzigen Anfangs zu der fabelhaften Größe der voll ausgebildeten Pflanze. Für Jesus stehen diese Geschichten von der Erde im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner ebenfalls die Erde betreffenden Botschaft vom „Reich Gottes“, der Erde im Großen sozusagen. Was dort immer wieder zu beobachten und zu erfahren ist, das gilt auch hier.
Claus Petersen
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