Kapitel 2
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Buen Vivir, Ubuntu, weltverbunden leben: Ausdruck einer Zeitenwende im globalen Kontext
Wir suchen nach einer Daseinsorientierung, die für uns alle, für alle Menschen auf der Erde, eine Zeitenwende bedeuten könnte. Alle Menschen müssten darauf ansprechbar sein, alle müssten deshalb mit ihren je eigenen Traditionen, die vielleicht in eine ganz ähnliche Richtung gehen wie diejenige, die hier im Besonderen vorgestellt werden soll, prinzipiell zu Wort kommen.
Dies ist natürlich hier in keiner Weise realisierbar – dazu reichen der Raum, aber auch meine eigenen Kenntnisse bei weitem nicht aus. Dennoch soll es zumindest beispielhaft und stichwortartig geschehen. Deshalb werden hier einige Konzepte eines guten, eines richtigen Lebens jedenfalls genannt und kurz umrissen, Ansätze, die aus verschiedenen Kulturen und geografischen Regionen unserer Erde stammen.
Beginnen wir mit dem – das Stichwort wurde soeben genannt – „guten Leben“, dem „Buen Vivir“, das in Südamerika – aber durchaus nicht nur mehr dort – eine wichtige Rolle spielt. Das spanische „buen vivir“ beziehungsweise „vivir bien“ oder portugiesisch „bem viver“ bedeutet „gutes Leben“ beziehungsweise „gut leben“ und bezieht sich auf den Ausdruck „sumak kawsay“ (Quechua) bzw. „suma qamaña“ (Aymara), das in etwa „auskömmliches Zusammenleben“ oder „vollkommenes Leben“ meint. Es bezeichnet ein zentrales Prinzip in der Weltanschauung der indigenen Bevölkerung in Südamerika. Im Gegensatz zum kapitalistischen Wachstumszwang verfolgt das „Buen Vivir“ den Gedanken des nachhaltigen Zusammenlebens und eines Gleichgewichts, in dem Grundbedürfnisse befriedigt und würdiges Leben möglich sind. Im Mittelpunkt stehen Mensch und Natur, deren Rechte gleichermaßen geachtet werden. In einem am 16. September 2022 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Interview führte Alberto Acosta, der von 2007 bis 2008 als Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors das neue Grundgesetz des Landes mitprägte, in das neben modernen Elementen traditionell indigene Prinzipien wie die Rechte der Natur mit eingeflossen sind, dazu aus: „Die Rechte der Natur beruhen auf einer Lebensauffassung, in der alle Lebewesen, menschliche und nicht-menschliche, immer in einer Beziehung zwischen Subjekten, nicht zwischen Subjekt und Objekt, und keineswegs individuell existieren.“
In Ecuador und Bolivien ist das Buen Vivir zum Maßstab politischen Handelns geworden. In Ecuador trat am 20. Oktober 2008 eine neue Verfassung in Kraft, die sich eben darauf beruft. Die Präambel der Verfassung von Ecuador lautet:
WIR, das souveräne Volk Ecuadors
IN ANERKENNUNG unserer jahrtausendealten, von Männern und Frauen verschiedener Völker gestärkten Wurzeln,
FEIERN wir die Natur, die Mutter Erde, deren Teil wir sind und die für unser Dasein lebenswichtig ist,
RUFEN wir den Namen Gottes an und erkennen unsere unterschiedlichen Formen der Religiosität und Spiritualität an,
APPELLIEREN wir an die Weisheit aller Kulturen, die uns als Gesellschaft bereichern,
und beschließen
als ERBEN der sozialen Befreiungskämpfe gegenüber allen Formen von Herrschaft und Kolonialismus
mit unserem starken Engagement für die Gegenwart und Zukunft eine neue Form des Zusammenlebens der Bürger und Bürgerinnen in Vielfalt und Harmonie mit der Natur aufzubauen, um das Gute Leben, das Sumak Kawsay, zu erreichen,
eine Gesellschaft zu schaffen, die die Würde der Menschen und Kollektive in allen Aspekten respektiert;
ein demokratisches Land zu schaffen, das sich der lateinamerikanischen Integration – dem Traum Bolívars und Alfaros –, dem Frieden und der Solidarität mit allen Völkern der Erde verpflichtet.
(Zitiert aus: Alberto Acosta, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. Aus dem Spanischen von Birte Pedersen, Oekom Verlag München, 5. Auflage 2017, S. 16f.)
Artikel 71 der ecuadorianischen Verfassung lautet: „Die Natur oder Pacha Mama, in der sich alles Leben erneuert und realisiert, hat ein Recht darauf, dass ihre Existenz sowie die Erhaltung und Regenration ihrer Lebenszyklen vollständig respektiert werden.“ Die ecuadorianische Verfassung von 2008 ist die erste und bisher einzige Verfassung der Welt, in der die Natur als Rechtssubjekt gilt.
Am 25. Januar 2009 gab sich Bolivien eine neue Verfassung, in die das Konzept des „Buen Vivir“ als „suma qamaña“ (wörtlich etwa: „gut zusammenleben mit Mitmensch und Mitwelt“) Eingang gefunden hat. Die Regierung des damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales benannte zehn Punkte zur Rettung von „Mutter Erde“ und „vivir bien“: Der letzte Punkt: „‘Vivir Bien‘ in Harmonie mit der Mutter Erde“ lautet: „‘Gut Leben‘ heißt also nicht etwa besser leben auf Kosten der Anderen, sondern meint den Aufbau eines Lebens, das an der Gemeinschaft orientiert ist und in Harmonie mit der Natur.“ Die fundamentale Bedeutung der Pachamama („Mutter Erde, Mutter Welt, Mutter Kosmos“) für die indigene Spiritualität sowie ihrer Anerkennung und Wertschätzung auch durch andere Völker kommt dadurch zum Ausdruck, dass im Jahr 2009 auf Vorschlag der Regierung Boliviens der „Tag der Erde“ (Earth Day) am 22. April von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag der Mutter Erde“ (International Mother Earth Day) erklärt worden ist.
In Bhutan ist das „Glück“ der in dem Land lebenden Menschen in der Verfassung verankert und bereits im Jahr 1972 offiziell zum höchsten Staatsziel erklärt worden. Gesetzesänderungen sollen künftig nur dann beschlossen werden, wenn feststeht, dass sie der Allgemeinheit nützen. Bhutans König Jigme Singye Wangchuck erklärte, wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt sei das „Bruttonationalglück“. Darunter wird ein ganzheitlicher Ansatz des Wohlbefindens verstanden. Neben dem Lebensstandard, der körperlichen und seelischen Gesundheit sowie der Bildung werden etwa auch die Förderung der Vielfalt der Kulturen und der Erhalt des Ökosystems beim Bruttonationalglück einberechnet. Im Jahr 2008 wurde erstmals mittels Fragebogen das sogenannte Gross National Happiness (GNH) von staatlicher Seite ermittelt. Eine solche Befragung wird in unregelmäßigen Abständen alle paar Jahre wiederholt.
Bhutan ist bislang das einzige Land, in welchem ein „Bruttonationalglück“ anstelle des Bruttoinlandsprodukts erhoben wird. Während konventionelle Entwicklungsmodelle das Wirtschaftswachstum zum herausragenden Kriterium politischen Handelns machen, wird mit der Idee des Bruttonationalglücks angenommen, dass eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft nur im Zusammenspiel von materiellen, kulturellen und spirituellen Schritten geschehen kann, die einander ergänzen und bestärken. Es ist die Antithese zum Streben nach Reichtum.
Der Premierminister von Bhutan, Jigme Thinley, führte denn auch zusammen mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon den Vorsitz einer auf höchster Ebene stattfindenden Sondersitzung über das Thema Glück und kollektives Wohlbefinden, zu dem die Vereinten Nationen am 2. April 2012 eingeladen hatten und an dem mehr als 600 Diplomaten, Politiker und Wissenschaftler teilnahmen. Grundlage war der erste World Happiness Report („Welt-Glücks-Bericht“), der am 1. April 2012 herausgegeben worden war und große internationale Beachtung fand. Seitdem wird jedes Jahr ein solcher Bericht erstellt. (Quelle u.a.: Wikipedia)
„Ich bin, weil du bist, und ich kann nur sein, wenn du bist.“ „Ich bin, weil wir sind.“ Dies sind Sätze der afrikanischen Ubuntu-Lebensphilosophie, die aus afrikanischen Überlieferungen heraus vor allem im subsaharischen Afrika praktiziert wird. Der Begriff „Ubuntu“ ist von dem Wort „Bantu“, „Menschen“, abgeleitet und bedeutet in den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“, „Gemeinsinn“. „Ubuntu“ drückt aus, dass man selbst Teil eines großen, auch das Land, auf dem und von dem man lebt, mit einschließenden Zusammenhangs ist. Damit wird eine Grundhaltung bezeichnet, die sich vor allem auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung, Achtung der Menschenwürde und das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft stützt, aber auch auf den Glauben an ein „universelles Band des Teilens, das alles Menschliche verbindet“. Es ist eine Philosophie des Wir, eine Philosophie der Verbundenheit, wie sie manchmal bezeichnet wird. Die eigene Persönlichkeit und die Gemeinschaft stehen in der Ubuntu-Philosophie in enger Beziehung zueinander. Ubuntu enthält auch politische und religiös-spirituelle Aspekte, die die Verantwortung des Individuums innerhalb seiner Gemeinschaft betonen. Es gibt Versuche des südafrikanischen Verfassungsgerichts, diesen afrikanischen Kulturwert bei der Auslegung der Grundrechte in der südafrikanischen Verfassung einzubeziehen. (Quelle u.a.: Wikipedia)
Diese Flagge ist das Symbol der Aborigines, der Ureinwohner Australiens. Sie wurde von dem Aborigine-Künstler Harold Thomas im Jahr 1970 entworfen und im Jahr darauf anlässlich des Nationalen Tages der Aborigines vorgestellt. 1995 wurde sie zur offiziellen Flagge der australischen Ureinwohner. Nachdem der australische Staat im Januar 2022 das Copyright an der Flagge erworben hat, ist sie zum Allgemeingut geworden, das heißt, sie kann von allen Aborigines und Australiern reproduziert und frei verwendet werden.
Zusammen symbolisieren die Farben die Grundlagen des Lebens und das Zusammenleben der Aborigines mit ihnen. Die gelbe Scheibe in der Mitte steht für die Sonne als Spenderin allen Lebens. Die untere rote Hälfte symbolisiert das sprichwörtlich rote Land Zentralaustraliens, die obere schwarze Hälfte steht für die Aborigines selbst (in englischer Sprache nennen sie sich „black fellas“).
Der Begriff „Aborigines“ (abgeleitet vom lateinischen „ab origine“, „von Beginn an“) fungiert im deutschen Sprachgebrauch als Sammelbezeichnung für alle indigenen Völker Australiens. Sie selbst, in ihren jeweiligen Sprachen, bezeichnen sich in Südostaustralien als „Koori“, auf Deutsch „Menschen“; mehrere Völker im mittleren Südwesten Australien nennen sich „Anangu“, auf Deutsch ebenfalls „Menschen“. Ähnliches gilt für den Begriff „Maori“ für die indigene Bevölkerung Neuseelands: In Legenden und Mythen bezeichnet das Wort sterbliche Menschen im Gegensatz zu Geistern und unsterblichen Wesen. Die melanesischen Ureinwohner*innen in Neukaledonien, einer Insel im südlichen Pazifik, nennen sich „Kanaken“, abgeleitet von „kanaka maoli“, einer hawaiischen Bezeichnung für „Mensch“ („kanaka“). Auch das Wort „Roma“ bedeutet einfach „Menschen“. So unterschiedlich das Wort in den verschiedenen Sprachen klingt, es meint doch in jeder einzelnen das gleiche: den Menschen – ganz und gar unabhängig von seinem Wohnsitz. Es ist ein der unmittelbaren Wahrnehmung entsprungener inkludierender Begriff. „Wer bist du? Südostaustralierin? Mittlerer Südwestaustralier? Neuseeländerin? Neukaledonier? …? …? …?“ „Ich bin, wie sie alle, ein ‚Mensch‘.“
„Das Land lebt für uns, sorgt für uns, kommuniziert mit uns und wir sind ein Teil von ihm.“ Diese Überzeugung prägt den innigen Umgang der „Aborigines“ mit ihrem Lebensraum. Ihre Bindung an ihr Land ist so stark, dass sie sich als zum Land gehörend empfinden und nicht etwa umgekehrt als (zufälliger) Besitzer oder Bewohner irgendeines Territoriums. So ist das Land denn auch die zentrale Figur in ihrer religiösen Vorstellungswelt, denn die Ereignisse der „Traumzeit“ manifestieren sich nach ihrem Glauben in auffälligen Naturerscheinungen wie zum Beispiel Felsen oder Quellen. Der im Deutschen mit „Traumzeit“ (im Englischen mit „Dreamtime“ oder „Dreaming“) übersetzte Begriff „alcheringa“ der mittelaustralischen Sprache Arrernte ist der zentrale Begriff der Religiosität der Aborigines. Die Traumzeit-Legenden handeln von der universellen, raum- und zeitlosen Welt, aus der die reale Gegenwart in einem unablässigen Schöpfungsprozess hervorgeht, um ihrerseits wiederum die Traumzeit mit neuen geschichtlichen Vorgängen zu „füllen“. Dieses allumfassende spirituelle Gewebe erklärt somit, wie alles entstanden ist, und begründet die ungeschriebenen Gesetze, nach denen die Aborigines leben. (Quelle u.a.: Wikipedia)
Soweit also dieser sehr kurze, allgemeine und eher oberflächliche Blick auf Philosophien, religiöse Vorstellungen, spirituelle Richtlinien, die ein richtiges, gutes Leben in Verbundenheit gewährleisten möchten und über den geografischen Bereich hinaus, in dem ihre Wurzeln liegen, bekannt geworden sind. Und berühren sie uns nicht auch selbst ganz persönlich? Empfinden wir nicht ihre weltweite Relevanz und Gültigkeit? Meines Erachtens repräsentieren sie eine Lebens- und Daseinshaltung, die eng mit jenem vollkommen neuen Impuls verwandt ist, den wir hier näher in den Blick nehmen wollen. Ähnlich wie es für all die genannten Weltanschauungen gilt, könnte auch diese Existenzweise, wie sich noch herausstellen wird, etwa mit den Worten „weltverbunden leben“ charakterisiert werden. Das aber heißt: Sie wäre nicht nur den genannten, sondern auch vielen anderen – geschichtlichen, aber auch aktuellen – Lebensmodellen an die Seite zu stellen, denen angesichts einer entfremdeten und unguten Lebensweise, einer das Leben aller gerade nicht förderlichen Ökonomie und Politik ein anderes Konzept zu Grunde liegt. Wir wollen diesen möglichen globalen Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren, wenn wir uns speziell jener Daseinshaltung zuwenden, die in den Worten Jesu von Nazaret erkennbar wird, und gegebenenfalls auf derartige Parallelen hinweisen.
Bevor wir ins Detail gehen, werden im nächsten Kapitel schon einmal 21 Leitgedanken formuliert, die sich aus jenen 21 Worten ableiten lassen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Jesus von Nazaret zurückgehen. Sie sollen dazu verlocken, sich danach auf den manchmal steinigen, nicht immer ganz mühelosen, aber vielleicht tatsächlich einer Zeitenwende näherbringenden Weg zu machen, diese Jesusworte freizulegen und ihre Botschaft wahrzunehmen.
Claus Petersen
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