Kapitel 20
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
„Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind…“
Der Zuspruch des Reiches Gottes an die Kinder (Markus 10,14b–15)
Das siebte der 21 Jesusworte
Erst im 10. Kapitel des Markusevangeliums stoßen wir wiederum auf ein Wort, das ausdrücklich das „Reich Gottes“ thematisiert und sich ganz klar auf die Gegenwart bezieht. Dass es von Jesus selbst stammt, ist kaum zu bestreiten:
… solcher [der Kinder] ist das Reich Gottes.
Amen, ich sage euch:
Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind,
kommt nicht hinein.
Ein starkes, überraschendes Wort! Für Jesus gibt es Menschen, denen das „Reich Gottes“ schon gehört, die jetzt schon in ihm leben: die Kinder. Unmittelbar und bedingungslos spricht er es ihnen zu: „solcher ist das Reich Gottes“, wie es auch im griechischen Urtext ausdrücklich heißt, obwohl jenes estín („ist“) im Griechischen in einer solchen Satzkonstruktion auch entfallen könnte und dann sinngemäß zu ergänzen wäre. Hier aber soll kein Zweifel aufkommen: Kinder haben teil am „Reich Gottes“, und zwar offensichtlich ganz einfach deshalb, weil sie Kinder sind und wie sie es sind. Ganz selbstverständlich leben sie „richtig“, können es noch gar nicht anders – was für die Erwachsenen so jedoch nicht mehr gilt. Und Jesus nennt auch den Grund: Sie „nehmen“ es nicht mehr ganz automatisch „an“ wie ein Kind. Nur dann aber „kommt man hinein“.
Was ist es, was Kinder „immer schon“ richtig machen, uns Erwachsenen aber verloren gehen kann und sehr oft tatsächlich alles andere als geläufig ist? Was bringen Kinder mit hinein in die Welt, das sie keineswegs erst erlernen mussten, sondern ihnen gleichsam noch im Blut liegt? Und, wohlgemerkt: Genau dies wäre die Voraussetzung, am „Reich Gottes“ teilzuhaben, bedeutete, „richtig“, im vollen Umfang „gut“ zu leben. Was „stimmt“ bei den Kindern noch, immer neu und immer wieder, was uns Erwachsenen vielfach so ganz und gar abhandengekommen?
Vielleicht ist es dies, was jedem Kind, solange es Kind sein darf, noch eigen ist – und uns oftmals so sehr beglückt: Ein Kind reagiert von Anfang an auf die Welt, die es umgibt, und kommuniziert sofort und unablässig mit ihr. Es „nimmt“ sie ganz selbstverständlich „an“ als seine unablässige Begleiterin, lebt von allem Anfang an in ihr und vor allem mit ihr. Ein Kind erlebt sich immer und unmittelbar „in Beziehung“. Es ist nie und will natürlich auch nie allein sein. Es versucht sofort zu kooperieren. Noch hat sich nichts zwischen das Kind und seine Mitwelt geschoben. Es existiert immer nur zusammen mit ihr. Kinder äußern ihre Bedürfnisse, signalisieren, wenn sie Hunger haben, wenn sie Zuwendung, aber auch, wenn sie ihre Ruhe brauchen. Sie sind darauf angewiesen, rechnen aber auch fest damit, dass ihre Mitmenschen ihnen all das zukommen lassen, wonach sie verlangen, dass sie ihren Hunger – wonach auch immer – stillen werden. Sie leben voll und ganz im Hier und Jetzt, hingegeben an den Augenblick, sind ganz und gar Teil dessen, was sie umgibt. Kinder können sich noch nicht von der Welt distanzieren, sie von außen betrachten, sie analysieren, sie objektiv beschreiben.
Erwachsene können das schon, und oftmals kennen sie es gar nicht mehr anders. Ihre Beziehung zur Welt ist sachlicher, rationaler und vielfach schlicht kommerzieller Natur. Gleichwohl sind sie in der Lage, das „Kind“, das sie immer noch in sich haben, wiederzuentdecken. Ein schönes Beispiel dafür fand ich im Vorwort des im Jahr 2015 erschienenen Buches „Das geheime Leben der Bäume“, mit dem Peter Wohlleben bekannt geworden ist. Es beginnt mit den Worten: „Als ich meine berufliche Laufbahn als Förster begann, kannte ich vom geheimen Leben der Bäume ungefähr so viel wie ein Metzger von den Gefühlen der Tiere. Die moderne Forstwirtschaft produziert Holz, sprich, sie fällt Stämme und pflanzt anschließend wieder neue Setzlinge. Liest man die Fachzeitschriften, entsteht schnell der Eindruck, dass das Wohl des Waldes nur insofern interessiert, als es hinsichtlich einer optimalen Betriebsführung notwendig ist. Für den Försteralltag reicht dies auch, und allmählich verbiegt sich dabei der Blick.“ Wenig später aber heißt es: „In Gesprächen mit den vielen Besuchern wurde mein Waldbild wieder geradegerückt. Krumme, knorrige Bäume, die ich damals noch als minderwertig einordnete, riefen bei Wanderern Begeisterung hervor. Ich lernte zusammen mit ihnen, nicht nur auf die Stämme und deren Qualität zu achten, sondern auch auf bizarre Wurzeln, besondere Wuchsformen oder zarte Moospolster auf der Rinde. Meine Naturliebe, die mich schon als Sechsjährigen umgetrieben hatte, entflammte aufs Neue.“
Wohnt diese „Naturliebe“ nicht in jedem Kind? Jeder kleine Mensch – so dürfen wir doch wohl vermuten – lebt zunächst einmal in einer ganz natürlichen, vertrauensvollen, herzlichen Beziehung zu seiner Mitwelt, solange jedenfalls, bis entfremdende Erfahrungen, Enttäuschungen des Vertrauens zu anderen Menschen zum Beispiel, dieses Zusammenspiel stören, unterbrechen und schließlich zum Erliegen gebracht haben. Jedenfalls muss es doch wohl dieses zumindest anfängliche Eingebettetsein in den Weltzusammenhang gewesen sein, diese noch ganz selbstverständliche Weltverbundenheit der Kinder, die Jesus dazu veranlasst, ihnen die Teilhabe am „Reich Gottes“ vorbehaltlos zuzusprechen Und eben genau dies muss er damit gemeint haben. Wem dies nicht ebenso selbstverständlich ist oder wieder wird wie ihnen, der findet – so Jesus – nicht hinein, findet nicht dorthin zurück. Durch das dem ausdrücklichen „ich sage euch“ vorangestellte beteuernde und bekräftigende „Amen“ (= „wahrlich“, „gewiss“) erhält diese Aussage geradezu Gesetzeskraft: So ist es mit den Kindern. Punkt.
Wie aber kann dies auch für uns, die Erwachsenen, gelingen? Wie können wir mit der Welt freundlich und freundschaftlich verbunden bleiben als dem Fluidum unseres Lebens schlechthin, der Welt, die uns das Leben geschenkt hat und es erhält bis zu unserem letzten Atemzug, der Welt, die uns in all ihrem Glanz und all ihrer Vielfalt das Leben Tag für Tag so unendlich lebenswert macht? Wie können wir die Welt wieder als den mit uns selbst unmittelbar verbundenen Lebensraum empfinden, in dem wir uns ganz selbstverständlich richtig verhalten?
Gerade hier stellt uns Jesus einen Wegweiser vor Augen, der uns nicht in die Irre führen kann: die Kinder. Sie sind für ihn unsere Lehrmeister – mindestens so sehr wie umgekehrt. Damit spricht er ihnen in sehr ungewöhnlicher und völlig neuer Weise höchste, für uns als Erwachsene geradezu lebensentscheidende Bedeutung zu. – Zu seiner Zeit wurden Kinder häufig in einem Atemzug mit anderen, zum Beispiel aufgrund körperlicher oder geistiger Behinderungen, geringgeschätzten Personengruppen genannt. Wie sehr man auf sie herabsah, geht auch aus dem – wahrscheinlich sekundären – Kontext unseres Jesusworts hervor: Die Jünger fahren diejenigen an, die Kinder zu Jesus bringen wollen. Ganz anders Jesus: „…solcher [der Kinder] ist das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, kommt nicht hinein.“ Kann man Größeres über Kinder sagen? Jesus muss ihnen äußerst zugetan gewesen sein. Sie stellt er uns als Vorbild vor Augen! Es ihnen gleichzutun, davon hängt für ihn alles ab. Nehmen wir sie also wahr, wo immer sie uns begegnen! Lassen wir uns von ihnen an die Hand nehmen – im übertragenen, vielleicht aber auch mal im wörtlichen Sinn – und dem wirklichen, dem richtigen Leben wieder zuführen! Wenn wir beobachten, wie sie – ohne alle Vorbehalte – anderen Menschen zugewandt sind, wie wach und äußerst aufmerksam sie auf die Welt reagieren, die sie umgibt, könnten wir das Kind, das wir selbst einmal waren, wiederentdecken. Das, was uns inzwischen abgewöhnt worden ist, was wir verlernt haben, verlernen sollten (?), könnte aufs Neue lebendig werden, das, wozu wir alle einmal ganz selbstverständlich fähig und in der Lage gewesen sind.
Damit Kinder unsere Lehrmeister*innen sein und möglichst lange bleiben können, muss ihr vertrauensvoller Weltkontakt, auf den ihre ganze Existenz angelegt ist, immer wieder bestätigt, immer wieder neu realisiert werden. Das aber ist nicht immer ganz einfach. Kinder fördern ihr Umfeld, ganz sicher, aber sie fordern es schon auch heraus, zuallererst ihre Eltern. Doch wenn man sich auf sie einlässt, auf ihre Befindlichkeit, auf ihren Lebensrhythmus, kann es sein, dass man das eigene Leben mit neuen Augen sieht, bislang Normales in Frage stellt, die Prioritäten anders setzt, zu einer guten, zur richtigen Existenzweise zurückfindet.
„Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind…“ – durch ein Kind kann uns wieder aufgehen, was das Leben eigentlich ausmacht: nicht, seinen Wohlstand zu mehren, aber auch nicht, von der ständigen Sorge um das Allernötigste umgetrieben zu sein. Nein, zu leben heißt, sich der Schönheit und den unbeschreiblichen Wundern der Welt zu öffnen, Zeit für sie zu haben, es zu genießen, dass die Freude darüber uns die Gewissheit zuspielt, auch selbst dieser Wunderwelt zuzugehören; dass zu leben nicht heißt, sich selbst abzusichern nach allen Regeln der Kunst, sondern angewiesen zu sein und zu bleiben auf die Welt und Gesellschaft wie Kinder auf ihre Eltern – und umgekehrt: eigene Bedürfnisse artikulieren zu dürfen sowie die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und dazu beizutragen, sie zu erfüllen. Ist es nicht dies, das „gute“, das „richtige“ Leben, in der Sprache Jesu: das Reich Gottes?
Oftmals werden Kinder heute schon früh, manchmal sehr früh, in andere Hände gegeben. Kitas und Krippen stehen in immer größerem Umfang bereit, schon die Jüngsten „professionell“ zu betreuen und zu fördern. Zum Teil wird diese Möglichkeit den Eltern sogar garantiert. Als ob schon die Kleinen keinen Platz mehr haben dort, wo ihr Platz eigentlich wäre: bei denen, zu denen sie erst einmal gehören. Wenn wir uns dem ungeschriebenen Gesetz beugen, all unsere Zeit „produktiv“ zu nutzen, steht sie den Kindern, so selbstverständlich es sein müsste, nicht mehr zur Verfügung. Unsere jetzige Produktionsgesellschaft entfremdet die Menschen von ihren eigenen „Produkten“, den Kindern. Gewalt und Raffgier erlernen die Kinder von den Erwachsenen. Gerade sie aber könnten das Gespür für das richtige Leben wieder in uns aufkommen lassen. Gerade sie könnten uns darin bestärken, unser bisheriges Leben nicht mehr in der Weise fortzuführen, wie es bisher ganz selbstverständlich war. –
Wie schon kurz angedeutet, dürfte der Erzählzusammenhang, in den dieses Jesuswort eingebettet ist, erst in späterer Zeit entstanden sein und keine historische Erinnerung enthalten. Jesus wird hier bereits als derjenige gezeichnet, von dem eine besondere Kraft ausgeht: Er segnet die Kinder, die man zu ihm gebracht hat, nachdem er zuvor seine Jünger ermahnen musste, diejenigen, die mit ihren Kindern zu ihm kommen wollten, nicht zurückzuweisen: „Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran!“ Unmittelbar darauf folgt das eigentliche Jesuswort.
Claus Petersen
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