Kapitel 35
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Folgerungen, Konkretionen, Vertiefungen:
Re-volution – zurück zu dieser einen gemeinsamen Welt
Das wäre schön: In einer Welt zu leben, in der alle Menschen in ihrer Vielfalt
das gleiche Recht, die gleichen Möglichkeiten und den gleichen Anspruch haben,
ihre Persönlichkeit und ihre Lebenswelt frei zu entwickeln und aktiv zu gestalten.
In einer Gesellschaft, die allen Menschen und auch den Tieren und der Natur gerecht wird.
In der alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit haben, sich mit ihren Fähigkeiten einzubringen,
um diese gemeinsame Welt immer wieder neu zu schaffen, weil die Ideen, Kreativität,
Kräfte, Entscheidungs- und Gestaltungsfähigkeit aller gleichermaßen gefragt und erwünscht sind.
In der alle Menschen über die Früchte ihrer Tätigkeit selbst frei verfügen.
Renate Röthlein (Straßenkreuzer. Das Sozialmagazin 5/2004, S. 30)
Kinder bilden ja eine Menschenspezies und Gesellschaft für sich,
sozusagen eine eigene Nation; leicht und notwendig finden sie sich,
auch wenn ihr kleiner Wortschatz verschiedenen Sprachen angehört,
auf Grund gemeinsamer Lebensform in der Welt zusammen.
Aus: Thomas Mann, Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis (1930)
Fortschritt, Entwicklung, Wachstum („Growth, growth and growth“, so die kurzzeitige englische Premierministerin Liz Truss am 5. Oktober 2022) – wie schal, wie zwiespältig, wie gefährlich, ja katastrophenträchtig sind diese Begriffe inzwischen geworden – bei denen jedenfalls, die sie bislang (und manche heute noch) wie eine Art Heilsversprechen vor sich hergetragen oder auch voller Überzeugung propagiert und denen, für die sie bislang überhaupt keine Rolle spielten, schmackhaft zu machen versucht oder sie ihnen einfach aufoktroyiert haben.
- Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter: Wie aus dem am 20. September 2022 veröffentlichten Global Wealth Report 2022 der Schweizer Großbank Credit Suisse hervorgeht, verfügte das reichste Prozent der Menschheit im Jahr 2021 über 45,6 Prozent der weltweiten Geldvermögen (2019 waren es noch 43,9 Prozent), den reichsten zehn Prozent gehörten 86,3 Prozent. Andererseits hat ein Drittel der Weltbevölkerung überhaupt kein nennenswertes Geldvermögen.
- Die Ausgaben für Militär und Rüstung steigen und steigen – auf mittlerweile erstmals über zwei Billionen US-Dollar, nämlich auf die schier unvorstellbare Summe von 2113 Milliarden US-Dollar, wie aus dem aktuellen Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri hervorgeht.
- Und die Klimakatastrophe scheint trotz aller Bemühungen beziehungsweise Versprechungen schon nicht mehr aufzuhalten zu sein: Wie die Internationale Energieagentur (IEA) am 8. März 2022 in Paris mitteilte, wurden im Jahr 2021 weltweit 36,3 Milliarden Tonnen energiebedingte CO2-Äquivalente ausgestoßen – so viel wie nie zuvor.
Ist der Eindruck ganz von der Hand zu weisen, dass uns „Dämonen“ immer weiter ins Verderben treiben? Auf rationalem Weg, durch Überzeugungsarbeit, aber auch durch Alarmsignale, und seien sie noch so laut, so schrill, so unüberhörbar, entkommen wir ihnen offensichtlich nicht – oder haben uns in Wahrheit längst mit ihnen arrangiert. Aber trotzdem: Gut geht es uns dabei nicht. Doch ist ein „Weiter so“ wirklich unvermeidlich? Als ob wir uns verstiegen haben und nicht mehr zurückfinden.
Etwas müsste sich grundlegend ändern. Aber eben nicht im Sinn einer Pro-volution, einem weiteren Vorwärtsrollen, Vorwärtswälzen (dies bedeutet das lateinische Tätigkeitswort provolvere, von dem man jenes, allerdings nicht gebräuchliche Fremdwort ableiten könnte), sondern tatsächlich im Sinne einer wörtlich verstandenen Re-volution (vom lateinischen revolvere, „zurückrollen, zurückwälzen“). Wir sind nicht mit den „Dämonen“ zur Welt gekommen, diesen entfremdenden Denk- und Verhaltensweisen, von denen wir uns so schwer wieder befreien können. Wo ist der „Finger Gottes“, das Andere, das Wahre, um uns mit einer Macht zu überkommen, dem all diese „Dämonen“ weichen müssten?
Schauen wir doch auf unsere Kindheit zurück. Erinnern Sie sich vielleicht im Zusammenhang mit den folgenden drei Beispielen an eigene Beobachtungen oder sogar an – schon längst vergessene – eigene einstige Verhaltensweisen?
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Keine Klassifizierungen mehr
Ich erinnere mich an ein Video, das im Jahr 2015 die Runde machte – Sie erinnern sich an die Flüchtlinge, denen damals die Einreise aus Ungarn gestattet wurde, an die Vorbehalte und den Widerstand, aber auch an die große Hilfsbereitschaft und an das unvergessliche „Wir schaffen das“ der damaligen Bundeskanzlerin. Das Video zeigt eine kurze Szene, die sich während eines Interviews mit dem deutsch-iranischen Rapper Fard zugetragen hat. Zufällig kommt da, während des Interviews, der vierjährige Niclas aus dem Kindergarten vorbei. Fard fragt ihn, ob es denn in seinem Kindergarten Ausländer gebe. Die Antwort des Kindes: „Nein, da sind Kinder.“
Die Fragestellung ist Niclas offensichtlich völlig fremd. Es ist ihm nicht möglich, derartige Unterscheidungen vorzunehmen. Er kann es (noch) nicht. Er nimmt seine Gefährt:innen im Kindergarten einfach als seine Mitmenschen wahr – ohne irgendwelche Klassifizierungen. Niemand hat Niclas dazu angeleitet. Für ihn war es ganz selbstverständlich.
Aus den Reaktionen der Erwachsenen, die diese Szene sahen, war immer abzulesen, dass sie von der Antwort des Kindes auf jene Frage zutiefst bewegt waren. Manchmal war auch so etwas wie Trauer herauszuspüren, dass uns Erwachsenen dies wohl leider nicht mehr möglich, geschweige denn so selbstverständlich ist wie diesem Kind. Aber vielleicht – wer weiß? – hat Niclas hier und da eben doch zu jener Re-volution verhelfen können, die zu einer ganz neuen Existenz befreien würde.
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Keine Mauern und Grenzen mehr
Haben Sie vielleicht auch den Festakt zum „Tag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober 2022 in Erfurt im Fernsehen verfolgt? Da sang der mir bisher noch nicht bekannte, 1989 in Berlin geborener Singer-Songwriter Max Prosa ein Lied (Minute 34:50-37:15) mit diesem Refrain: „Denn alle Grenzen hat der Mensch gemacht, / das ist, was man so leicht vergisst. / Schau, wie ein Kind einfach hinüberläuft. / Es nimmt die Erde, wie sie ist. / Es nimmt die Erde, wie sie ist.“
Kinder nehmen die Erde, nehmen die Welt so, wie sie ist. Sie stellen sich voll und ganz auf sie ein, schenken menschlichen Handlungen, die sie zum Objekt gemacht haben, indem sie sie zum Beispiel mit Grenzen oder gar Mauern versehen, einfach keine Beachtung. Sie „sehen“ die Grenzen nicht. Sie sehen tatsächlich noch die eine, gemeinsame Welt – so ähnlich wie der „Weltenmaler“, von dem ganz zu Anfang dieses „Basiskurses“ die Rede war (Kapitel 1). Ihr „Auge“ ist noch gar nicht in der Lage zu objektivieren, und das heißt ja immer: sich zu distanzieren. Sie „nehmen die Erde, wie sie ist“, sie nehmen sie wahr als ihren – natürlich ungeteilten – Lebensraum. Und damit haben sie teil am „Reich Gottes“.
Welch ein Jubel erfüllt uns, wenn Grenzen niedergerissen werden, wenn Mauern fallen! Und wen bedrückte es in Wahrheit nicht, wenn man meint, sie ziehen, sie errichten zu müssen! Wir haben es noch nicht vergessen – das Richtige, das, was wir brauchen, das, was uns Menschen einzig gemäß ist.
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Statt Vorschriften und Gesetzen: Authentizität, sein, wer man ist, leben, wie man es eigentlich möchte
Man kann es wieder lernen, zum Beispiel von den Kindern. In einem Ratgeber für die Begleitung von Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren erzählt eine der beiden Autorinnen von einer eindrücklichen Erfahrung im Rahmen ihrer eigenen Berufsausbildung zur Lehrerin. Zunächst gelang es ihr nicht, die Kinder in ihrer Klasse „mitzunehmen“. Immer wieder hatte sie mit Unaufmerksamkeit und Störungen zu kämpfen. Sie bekam sie nicht in den Griff. So hospitierte sie in anderen Klassen. In manchen erlebte sie ähnliches wie in ihrer eigenen: Die Lehrkräfte stellten Regeln auf und bemühten sich durch erzieherischen Druck, Lob und Strafen, aber mit ebenfalls mäßigem Erfolg, sie durchzusetzen. In anderen Klassen gab es solche Probleme nicht: Die Lehrkräfte kommunizierten direkt und persönlich mit den Kindern, und die reagierten immer positiv darauf. Man verständigte sich auf ein und derselben Ebene. Es existierten keine von außen gesetzten Normen. Die Lehrerin resümiert, „dass der Unterschied vor allem darin lag, dass die einen authentisch agierten, während die anderen ihre persönlichen Gedanken und Gefühle hinter der Lehrerrolle versteckten und die Kinder nur als ‚Schüler‘ sahen, also als Objekte, nicht als individuelle Subjekte.“ Und wenig später stellt sie grundsätzlich fest: „Je jünger unsere Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, auf unsere Worte statt auf unsere unbewussten Signale zu reagieren, weil ihre Intuition noch nicht so stark vom rationalen Denken übertüncht wird.“ (Danielle Graf, Katja Seide, Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Gelassen durch die Jahre 5 bis 10, Beltz Verlag, Weinheim 2018, 2. Auflage, S. 237f.)
Kinder sind offensichtlich nicht in der Lage, etwas, das sich außerhalb ihrer Welt befindet, zu integrieren. Sie können ihre unmittelbare Weltverbundenheit noch nicht verlassen und aus ihr heraustreten. Sie können sich noch nicht, können sich in keiner Weise von der Welt distanzieren. Der Lehrerin ist es durch ihre Beobachtungen gelungen, aus ihrem entfremdenden Rollenverhalten auszusteigen – jedenfalls was ihren Unterricht angeht. Vielleicht ist es aber dadurch, dass man sich in seinem ganzen Lebensvollzug, sozusagen mit Haut und Haar, als ganzer Mensch, auf Kinder einlässt, sogar möglich, diese rationalisierende, objektivierende Umgangsweise mit der Welt und den Menschen, eben diese nachträglich aufgetragene „Tünche“, wieder zum Verschwinden zu bringen und so die Re-volution zu vollziehen.
Jedenfalls wird die nicht nur für unsere Welt, sondern auch im Blick auf die eigene Existenzweise so wünschenswerte Re-volution durch Absichtserklärungen, gesetzliche Regelungen oder auch durch die Verabschiedung von Menschen- und Naturrechten wohl kaum gelingen. Es sind allesamt von außen gesetzte Anweisungen, die unserem Menschsein – und zwar nicht nur in unserer Kindheit – nicht wirklich entsprechen. Wir sind nicht in der Lage, sie nachträglich zu verinnerlichen. Die richtige Existenzweise, das gute Leben will anders verankert sein. Die Kinder erinnern uns daran, dass wir alle, jeder Mensch, zu dieser einen, gemeinsamen Welt gehören. Dass sie nicht nur Schauplatz, nicht nur Kulisse ist, die zwar einigermaßen stabil bleiben sollte, uns ansonsten aber zur freien Verfügung steht. Kinder leben noch in unmittelbarer Verbundenheit mit ihr – mit den anderen Kindern, mit ihrer Lehrkraft, mit der ganzen, ungeteilten Erde. Nur wenn uns dies wieder selbstverständlich ist wie dem kleinen Niclas, wird auch uns eine Objektivierung der Welt gar nicht mehr möglich sein. Kinder könnten manchmal zu jenem „Finger Gottes“ für uns werden, der den Grund unseres Menschseins wieder freilegt, indem er die Tünche“, die nachträgliche „Übermalung“ wieder entfernt.
Die Kinder können es sein, vielleicht aber auch die Begegnung mit der Weltanschauung im wörtlichen Sinn, der man bei indigenen Völkern begegnet. Ein Beispiel dazu noch aus Australien, Worte einer Vertreterin der Aborigines zum Thema „Dadirri“:
„Dadirri – das ist Zuhören tief im Inneren und leises, stilles Erkennen. Dadirri weiß um die tiefe Quelle in uns. Wir wenden uns ihr zu, und sie gibt uns Antwort… Wenn ich Dadirri erfahre, werde ich wieder ganz, wieder heil. Ich kann am Flussufer sitzen oder unter Bäumen spazierengehen; sogar, wenn ein Freund gestorben ist, kann ich in diesem leisen Erkennen meinen Seelenfrieden finden. Es bedarf dazu keiner Worte. Dadirri ist zu einem großen Teil Zuhören… Die kontemplative Form von Dadirri umfasst unser gesamtes Leben. Sie erneuert uns und bringt uns Frieden. Sie bewirkt, dass wir wieder heil werden…
Wir Ureinwohner haben auf unsere Weise von Anbeginn der Welt an gelernt zuzuhören. Wir können kein gutes und nützliches Leben führen, wenn wir nicht zuhören. Dies ist für uns die normale Form des Lernens – nicht das Fragenstellen. Wir lernen durch Beobachten, Zuhören, Warten – und dann Handeln. Unser Volk hat diese Form des Zuhörens seit mehr als 40.000 Jahren überliefert.
Doch es gibt noch einen anderen, für die weiße Welt befremdlich scheinenden Teil im Dadirri: das Abwarten. Unsere Kultur, die Kultur der australischen Ureinwohner, hat uns gelehrt, ruhig zu sein und abzuwarten. Wir versuchen nicht, Dinge zu beschleunigen. Wir lassen alles seinen natürlichen Gang gehen – wie die Jahreszeiten…“ (Miriam Rose Ungunmerr, Dadirri: die Spiritualität der australischen Ureinwohner, in: Ökologisches Weltethos im Dialog der Kulturen und Religionen, hrsg. von Hans Kessler, 1996, 196ff.)
„Beobachten, zuhören, warten“ – sich einlassen auf die Kommunikation der Welt mit uns selbst, auf das, was sie uns zeigt, wofür sie uns öffnet – und dann auch wahrnehmen, wenn sie uns „ruft“, und selbstverständlich tun, was sich eben jetzt aus unserem Weltzusammenhang ergibt. Ist nicht auch dies eine Facette weltverbundener Existenz?
Claus Petersen
Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.