Kapitel 50

RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT

DIE WELT-RELIGION JESU

BASISKURS BASILEIOLOGIE

 

 

Das jesuanische Evangelium vom guten, richtigen Leben – eine WeltReligion

 

In den vorangegangenen Kapiteln ist es uns gelungen, die authentische Jesusbotschaft, das jesuanische Evangelium von der Gegenwart des Reiches Gottes wieder freizulegen. Ausgangspunkt war der markante, Jesus zugeschriebene, aber höchstwahrscheinlich erst nach seinem Tod von seinen Anhänger:innen formulierte Vers 15 im ersten Kapitel des Markusevangeliums. Mit den Worten „Erfüllt ist die Zeit! Gekommen ist das Reich Gottes! Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ wollten sie Menschen dafür gewinnen, sich an dieser frohen Botschaft zu orientieren. Das Reich Gottes steht nicht mehr aus, wovon die Menschen damals ausgegangen sind, sondern ist gekommen, ist jetzt präsent.

Das Ergebnis ist eindeutig: Wir konnten 21 Texte in den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments identifizieren, die genau diese Botschaft enthalten oder sich auf sie beziehen. Damit spricht alles dafür, dass sie nicht wie so viele andere Jesus lediglich zugeschrieben worden sind, sondern tatsächlich auf ihn selbst zurückgehen. Sie alle setzen voraus, dass es um das Hier und Heute geht: Das große Festmahl steht „schon“ bereit, das Reich Gottes ist „mitten unter euch.“ Immer bezieht sich der Begriff „Reich Gottes“ auf die Gegenwart. Den Kindern und den Armen spricht Jesus es unmittelbar zu, den Reichen spricht er es ab.

Das war der „Schatz“, den Jesus entdeckt hat, und diese Entdeckung ist zum Thema seines Lebens geworden. Das richtige, das gute Leben steht uns offen, wir können und sollen dem Reich Gottes angehören. Das Reich Gottes ist kein Gegenstand der Hoffnung, vielmehr ist die Teilhabe an ihm die uns Menschen einzig gemäße Existenzweise. Die Kinder und die Armen gehörten dem Reich Gottes also selbstverständlich immer schon an.

In diesem Punkt – allerdings nur darin – unterscheidet sich die Jesusbotschaft doch ein wenig von jener Proklamation in Markus 1,15, wonach das Reich Gottes eben jetzt erst gekommen ist, die Zeit sich eben deshalb gerade jetzt erfüllt habe. Für Jesus war das Reich Gottes wahrscheinlich schon immer präsent. Er aber ist es gewesen, der das, was für die Menschen seiner Zeit immer noch Zukunft war, Zukunftsmusik, in das Hier und Jetzt geholt hat. Er hat das ganz neue Lied angestimmt, dass wir hier und jetzt gut und richtig, nämlich nicht isoliert von der Welt, sondern in Verbundenheit mit ihr leben und – eben deshalb – „selig“ sein können. Und er hat aufgezeigt, was dafür von grundlegender Bedeutung ist. Auch dies geht aus seinen Worten in großer Klarheit hervor, wobei die Besitzverhältnisse, jenes „genug“, für ihn an oberster Stelle zu stehen scheinen.

Denn natürlich muss man davon ausgehen, dass sich Jesus in sehr viel größerem Umfang zu seinem Lebensthema geäußert hat. Uns ist mit jenen 21 Worten sicher nur ein Ausschnitt dieser seiner Lebensbotschaft überliefert. Andererseits grenzt es beinahe an ein Wunder, dass zumindest diese 21 Worte nicht unter den Tisch gefallen sind. Denn dies ist schließlich unübersehbar: Thema des Neuen Testaments ist nicht die Jesusbotschaft, ist nicht sein Evangelium von der Gegenwart des Reiches Gottes, sondern der Glaube an ihn als den Christus und Gottessohn, der mit seinem Tod am Kreuz die Schuld der Menschheit gesühnt habe. Dies gilt auch für die ersten drei Evangelien, die zwar jene 21 Jesusworte enthalten, selbst aber jenen nachjesuanischen Glauben vertreten und ihn nachträglich mit dem Leben Jesu verknüpfen. Welch massive Probleme den Verfassern beziehungsweise Kompilatoren jener Evangelien die Jesusworte bereiteten, konnten wir immer wieder feststellen. So gut wie immer ist die ursprüngliche Aussage der Jesusworte durch Ergänzungen beziehungsweise durch den Kontext verfremdet, manchmal beinahe ausgehebelt worden, sind Jesus im direkten Zusammenhang mit seinen eigenen Worten Aussagen in den Mund gelegt worden, mit denen er sozusagen selbst seine Botschaft wieder revidiert oder gar zurücknimmt.

Gleichwohl: Mit Hilfe der Methoden der wissenschaftlichen Bibelexegese konnte wieder freigelegt werden, was Jesus von Nazaret einmal verkündigt hat. Der Kanon jener 21 authentischen Jesusworte genügt durchaus, um den eigenständigen und unverwechselbaren Charakter seines eigenen Evangeliums zu erschließen. In seiner Gesamtschau markiert dieser neue Stoff, dieser neue Wein jene Zeitenwende, für die die Jesusbotschaft steht.

Obwohl das jesuanische Evangelium durch die von der neutestamentlichen Wissenschaft entwickelten Methoden heute also wieder zugänglich ist, haben es die Kirchen nicht übernommen. Ihre Botschaft ist nicht die Botschaft Jesu. Vermutlich auf Grund der bereits im Neuen Testament zu beobachtenden übermächtigen Orientierung an der nach- und nichtjesuanischen Christologie und Soteriologie, die das jesuanische Evangelium fast vollkommen in den Hintergrund gedrängt hat, ist es ihnen nicht gelungen, sich davon zu lösen und zur Jesusbotschaft selbst zurückzufinden. Und selbst in der neutestamentlichen Wissenschaft werden – abgesehen von der eindeutig falschen Übersetzung des éngiken in Markus 1,15 („nahe herbeigekommen“ statt „gekommen“) – vermutlich aus demselben Grund auch heute noch exegetische Schlüsse nicht gezogen, obwohl sie auf der Hand liegen. So konnte gezeigt werden, dass lediglich die erste der im Matthäus- und Lukasevangelium überlieferten Seligpreisungen auf Jesus zurückgeht, dass das Gleichnis von der wertvollen Perle nicht von Jesus stammt und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit Vers 14 und nicht erst mit Vers 15 endet.

Wir wissen heute, was Jesus von Nazaret einmal verkündigt hat. Einige wenige, aber höchst bedeutsame Sätze und Erzählungen gehen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zurück. Sie geben zu erkennen, weshalb seine Worte auf so große Resonanz stießen, aber auch, weshalb sie auf manche durchaus irritierend und provozierend wirken konnten. Es ist sein Evangelium vom guten, richtigen Leben hier und jetzt, einer Existenzweise der Verbundenheit, die das Höchste und Größte ist, aber gleichzeitig das uns Menschen einzig Gemäße. Für Jesus ist es die Teilhabe am Reich Gottes, und zwar hier und jetzt.

Claus Petersen

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