Kapitel 52
RICHTIG LEBEN – HIER UND JETZT
DIE WELT-RELIGION JESU
BASISKURS BASILEIOLOGIE
Das jesuanische Evangelium vom guten, richtigen Leben – eine WeltReligion
Bislang haben wir dieses zusammengesetzte Wort mit Bindestrich geschrieben, um klarzustellen, dass hier nicht im traditionellen Sinn eine von mehreren auf der ganzen Erde verbreiteten Religionen gemeint ist, sondern eine solche, in deren Zentrum die Welt steht beziehungsweise unsere Verbundenheit mit ihr. Dies ist eine ganz neue und andere Art von Religion. Es ist eine Religion ohne Transzendenzbezug, ohne Dogmen, ohne festformulierte Glaubenssätze. Diese WeltReligion – deshalb jetzt in einem Wort und mit einer Binnenmajuskel versehen – ist ein eigenständiger Begriff. Er steht für eine Daseinshaltung, von der wir vermuten, dass sie allen Menschen gemeinsam sein, dass sie uns alle miteinander verbinden könnte. Wahrscheinlich hat diese WeltReligion vielerlei Spuren in den Traditionen der Menschheit hinterlassen. Einen besonderen, spezifischen und konzentrierten Ausdruck aber findet sie in der Botschaft beziehungsweise in der Lebenspraxis Jesu von Nazaret.
Und sie stößt auf Resonanz – damals und auch heute noch. Sie ruft etwas wach, das in uns allen wohnt. Diese WeltReligion wird uns nicht übergestülpt, ist kein Fremdkörper, der erst eingepflanzt werden muss, sondern erinnert uns an das, was uns Menschen im Grunde immer schon ausmacht, aber oftmals verschüttet, ausgeblendet, blockiert gewesen ist. Mit seiner Entdeckung, dass wahres Leben möglich ist, also die Teilhabe an dem, was er „Reich Gottes“ nennt, hat Jesus diese „Urreligion“ wieder freigelegt. Diese WeltReligion ist befreiend, sie ist wichtig, wir dürfen sie nicht vergessen und verlieren, das ist uns sofort klar. Sie soll unser Lebenskompass sein. So ist der Begriff Religion hier im Sinn einer Orientierung zu verstehen. Wir brauchen sie, weil sie zumindest uns Erwachsenen nicht mehr selbstverständlich ist. Das war vor 2000 Jahren nicht anders und stellt sich vermutlich in jeder geschichtlichen Situation ganz ähnlich dar. Jesu Botschaft wäre unnötig gewesen, wenn das, was er sagte, und die Art und Weise, wie er sich verhielt, allgemein übliche Praxis gewesen wäre. Es scheint uns Menschen gemeinsam zu sein, dass unser Weltbezug brüchig werden, ja sogar ganz zerbrechen kann.
Das aber hat fatale Konsequenzen, denn unsere Lebensfreude, unser Glück, unsere „Seligkeit“ hängt eben davon ab. Je mehr unsere Weltverbundenheit verloren geht, desto weniger ist unser Leben noch das, was es sein könnte. Wir verarmen, oft ohne es zu bemerken. Wir selbst und mit uns die Welt geraten aus dem Takt und aus dem Gleichgewicht. Wahrscheinlich wussten die Menschen schon immer um diese Gefahr – und erzählten sich Geschichten, sangen Lieder, ersannen Riten, Tänze, Rituale, um dieser allgegenwärtigen Bedrohung zu wehren, um nicht von dem Bazillus der Weltentfremdung infiziert zu werden. Vermutlich fühlten sie, dass ansonsten ihr Leben und ihre Gemeinschaft, ja die Welt aus dem Lot geraten und ins Chaos stürzen könnten.
Das jesuanische Evangelium will uns davor bewahren. Wir sollten uns auf die Jesusbotschaft verständigen. Sie müsste zu einer gemeinsamen Sprache werden. Nicht einer der Mächtigen und Herrschenden hat sie wieder freigelegt, sie kommt von unten. Nicht in den Palästen von Rom ist sie ans Licht gekommen, sondern in einer unterdrückten und ausgebeuteten Provinz. Und sie bezieht sich nicht auf einen bestimmten Personenkreis oder auf eine bestimmte Kultur, sondern letztlich auf die gesamte Menschheit und auf die uns allen gemeinsame Mitwelt.
Und tatsächlich werden weltweit Traditionen und Riten gepflegt, an die man anknüpfen kann, das „Ursakrament“ einer gemeinsamen Mahlzeit zum Beispiel. Hin und wieder als eine Feier unserer Weltverbundenheit gestaltet, könnte sie immer wieder aufs Neue unsere Mitwelt-Orientierung veranschaulichen, realisieren und stärken. Die so entscheidende Ökonomie des Genug für alle nähme Gestalt an. Den Rhythmus von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel, den Wechsel der Jahreszeiten und ihren unterschiedlichen Charakter wahrzunehmen, sind wesentliche Ausdrucksformen unserer Weltverbundenheit. Diese innere Uhr des Lebens und der Welt ist uns vorgegeben, ihre Zeiger dürfen nicht verstellt werden. Riten, Lieder, Feste erinnern daran, eine WeltReligion hat sie im Blick, wird sie pflegen und feiern, und ebenso den Ruhetag, den Sabbat, den siebten Tag der Woche. Die Sommer- und Wintersonnenwende verlangen und genießen schon immer besondere, sich in unterschiedlichen Formen äußernde Aufmerksamkeit. Und selbstverständlich gilt dies auch für unser eigenes Leben. Besondere Lebensstationen wollen gewürdigt und gefeiert werden: die Geburt, der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein, der Beginn einer dauernden Partnerschaft, schließlich das Ende unseres Lebens. Auf diese Weise vergewissern wir uns immer aufs Neue: Jedes einzelne Leben ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Großen Ganzen. Jedes Leben ist einmalig, ist etwas Besonderes, ist etwas einzigartig Wunderbares.
Ja, auch das Wunder kennzeichnet die jesuanische WeltReligion. Es ist nicht ihr wichtigstes Merkmal. Schon gar nicht ist es das Wunder, das uns überhaupt erst berechtigt, die jesuanische Daseinshaltung eine Religion zu nennen. „Religion“ heißt sie, weil wir selbst und die Welt ihrer als einer grundsätzlichen Orientierungshilfe bedürfen, weil wir unseres eigenen Lebens, unserer „Seligkeit“ hier auf Erden wegen auf sie angewiesen sind. Manchmal aber und wohl nur dann, wenn wir uns an dem Kompass dieser WeltReligion ausrichten, kommt es zu Entwicklungen, tun sich Türen auf und öffnen sich Wege, die nicht von uns geplant, aber wie für uns bestimmt erscheinen. Darf man sie als Zeichen dafür deuten, dass unser Leben in einem größeren Zusammenhang steht, der manchmal sichtbar, wahrnehmbar, geradezu konkret zu werden scheint? Es ist dieses „Er weiß selbst nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht“ (Kapitel 16). Als ob das, was sich da – angestoßen durch unsere Kooperation mit der Erde – entwickelt hat, mehr ist als die Frucht unserer eigenen Aktivitäten und Bemühungen, als ob da noch mehr im Spiel ist, als ob die Erde, als ob die Welt uns rückmeldet: Es war gut, es war richtig so.
LEBENSWENDE – ZEITENWENDE
Die WeltReligion Jesu kann eine Lebenswende und – unmittelbar mit ihr verbunden – eine Zeitenwende einläuten. Unser eigenes, so kostbares, aber endliches Leben blüht auf. Es wird dem Weltzusammenhang, in dem es sich vollzieht, gerecht. Es hat einen Platz, eine Bedeutung im Großen Zusammenhang. Die Frage, was unser Leben ist im Reich Gottes, beantwortet jeder Tag gelebten Lebens aufs Neue. Diese WeltReligion weist uns den Weg zu wirklichem Glück. Alles, was da geschieht an jedem Tag durch jeden einzelnen Menschen und die vielen anderen Menschen – und vielleicht werden es immer mehr –, ist durchtränkt von der Freude über unsere Mitmenschen und über unsere Mitwelt, mit denen und zusammen mit der wir existieren. Wir wollen ihnen und ihr keinen Schaden zufügen, im Gegenteil: Wir möchten unterstützen, wir möchten zu heilen versuchen, was verletzt ist, wir möchten den Zusammenhang allen Lebens stärken. Das ist es doch, was das Leben ausmacht, es lebenswert macht! Es gibt ein gutes Leben, trotz alles Falschen. Das ist das Evangelium Jesu! Was aber zugleich diesem Falschen und Verkehrten den Boden entzieht! Jedes richtig gelebte Leben rüttelt am Fundament des Falschen. Jedes richtig gelebte Leben trägt dazu bei, die Welt zu heilen. Die Zeitenwende kommt in Gang – ohne Gewalt. Das gute, das richtige Leben überwindet das Falsche. So – nur so – vollzieht sich die Transformation, die Revolution, gelingen Gerechtigkeit und Frieden.
DIE WIPHALA – SINNBILD DER EINHEIT, NICHT DER TRENNUNG
Schlagen wir zum Schluss noch einmal den Bogen zu den ersten beiden Kapiteln dieses Basiskurses, zu der „World Union Vision“ des „Weltenmalers“ und den Konzepten eines guten und richtigen Lebens, auf die man vor allem im Globalen Süden stößt. Ein Bild und seine Botschaft könnte vielleicht alles noch einmal zusammenfassen und auf den Punkt bringen, nämlich die Wiphala (sprich „Wippála“):
Die Wiphala ist die Flagge der indigenen Bevölkerung des Andenhochlands. Sieben mal sieben Quadrate in wiederum sieben Farben erinnern an den Regenbogen, dem Symbol des Einklangs mit der Natur, der Harmonie und des Friedens. Es ist keine Fahne, die eine bestimmte Gruppe repräsentiert, sie von anderen unterscheidet und eventuell gegen diese anderen ins Feld geführt wird. Es ist vielmehr eine Flagge, hinter der sich alle versammeln könnten, ein Sinnbild der Integration des Verschiedenen und der sich gerade daraus ergebenden Schönheit dieser Vielfalt.
Soweit das Bild. Und die Botschaft? In Bolivien wurde die Wiphala mit der Annahme einer neuen Verfassung am 7. Februar 2009 der bolivianischen Nationalflagge gleichgestellt. Von da an muss sie stets neben der bereits bestehenden Nationalflagge wehen. Beide Flaggen repräsentieren jetzt das Land und die Menschen, die dort leben, die Nationalflagge und diese Flagge der Verbundenheit. Sie steht damit für zwei unterschiedliche Welten, für zwei ganz verschiedene Sichtweisen. Der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der dem indigenen Volk der Aymara angehört, äußerte sich dazu in einem Gespräch mit dem Schweizer Agrarwissenschaftler Stephan Rist mit diesen Worten: „Im Namen der heutigen Nationalflaggen haben die Kolonisatoren und ihre Nachfahren unsere Lebensräume zerstückelt und unsere Länder und Ressourcen systematisch geplündert. Die Wiphala hingegen ist der Kodex der Integration und verkörpert den Regenbogen. Der Regenbogen hat keine Grenzen, er ist nicht bolivianisch, nicht argentinisch, nicht peruanisch, nicht schweizerisch, nicht japanisch. Der Regenbogen ist ein Teil der Natur und hat deshalb keine Grenzen. Er ist ein Bild der Einheit, nicht der Trennung.“
Am 7. Februar 2009 wurde die Wiphala der bolivianischen Nationalflagge gleichgestellt. Ab wann wird nur noch die Wiphala wehen – in Bolivien und in jedem anderen Land, in jedem anderen Kontinent und auf der ganzen Erde?
Claus Petersen
Eine PDF-Datei dieses Kapitels finden Sie hier.