Gedanken zum Reich-Gottes-Verständnis

Ökumenische Initiative Reich Gottes – jetzt!

Diskussionspapier, Stand Februar 2010
Vorgelegt von: G. Breidenstein, C. Petersen, M. Pfisterer, V. Schäfer, H. Schröder, K. Simon, W. Sternstein

„Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lukas 17,21)

Zur Herkunft des Reich-Gottes-Begriffs

Der Begriff Reich Gottes (andere Übersetzung: Gottesherrschaft oder Königsherrschaft Gottes) war im Judentum zur Zeit Jesu mit der Erwartung einer Welt verbunden, in der Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden herrschen – und Gottes Wille somit durch die Menschen Beachtung fände. Diese Hoffnung erfuhr durch die Apokalyptik konkrete Ausformung: man erwartete eine kosmische Zeitenwende, den Beginn des letzten Äons, in welchem Gott nun sein Reich der Gerechtigkeit aufrichten würde.

 

Reich Gottes in der Jesus-Überlieferung

Vor seinem öffentlichen Auftreten hatte sich Jesus zunächst der Gemeinschaft Johannes des Täufers angeschlossen, die von einer brennenden Naherwartung des Kommens Gottes geprägt war. Dann aber findet er zu einer völlig neuen Sicht. Das Markus-Evangelium bringt sie auf den Punkt: „Die Zeit ist voll, das Reich Gottes ist da! Kehrt um[wörtlich: denkt um]und glaubt an das Evangelium[wörtlich: vertraut auf die frohe Botschaft]“.Diese Zusammenfassung entspricht voll und ganz der Intention der wahrscheinlich echten Jesusworte (vgl. dazu das Diskussionspapier „Exegetische Grundlagen“):

  • Jesus muss die Erfahrung gemacht haben, dass die entscheidende Wende bereits eingetreten ist (Satanssturz). Der alte Äon ist definitiv an sein Ende gekommen („bis Johannes“). Von nun an setzt sich das Reich Gottes machtvoll durch. Es ist schon hier („mitten unter euch“), es ist „schon bereit“ (großes Gastmahl).
  • Jesus verbindet mit der Gegenwart des Gottesreiches eine demgemäße Lebensweise: Denen, die ‚einfach’ leben, spricht er das Reich Gottes unmittelbar zu („selig ihr Armen“). Reichtum und Reich Gottes sind absolut unvereinbar (Kamel und Nadelöhr), ebenso Machtausübung („wer unter euch groß sein will“) oder Gewaltanwendung (auch die andere Wange hinhalten). Es geht um ein ganz neues Gerechtigkeitsverständnis (Arbeiter im Weinberg). Doch nicht erzwungene Verhaltensregeln sollen das bewirken. Vielmehr ist das Entdecken des Gottesreiches Quelle großer Freude (Schatz im Acker).
  • Deshalb zeigt sich Jesus überzeugt, dass die neue Welt Gottes ungeachtet aller Misserfolge um sich greift (Gleichnis vom Ackerfeld). Regelrecht automatisch (selbstwachsende Saat) wird das Reich Gottes alles durchdringen (wie Sauerteig das Brot).

Während viele damals glaubten, Gott müsse die Welt erst durch einen kosmischen Eingriff erlösen, ist Jesus zutiefst davon überzeugt, dass das Reich Gottes jetzt da ist. Es kommt nun alles darauf an, dass die Menschen dies erkennen und dementsprechend leben.

Das Reich-Gottes-Verständnis Jesu ging von der Annahme aus, dass der vorletzte Äon unwiderruflich an sein Ende gekommen ist und der letzte Äon begonnen habe. Insbesondere glaubte Jesus deshalb offenbar, dass sich Gottes Reich nun unaufhaltsam und automatisch ausbreiten würde. Beide Auffassungen können wir heute nicht mehr teilen, denn ihnen liegt das antike (nach Äonen gegliederte) Weltbild zugrunde. Trotzdem markiert die Einsicht Jesu eine epochale Wende: Er hat als erster erkannt, dass Gottes Reich nicht noch bevorsteht, sondern die neue Zeit des Heils schon begonnen hat (D. Flusser). Das ist ein Grund zur Freude.

 

Reich Gottes aus heutiger Sicht

Der Begriff ‚Reich Gottes’ kommt in unserer Umgangssprache nicht mehr vor und klingt antiquiert. Worte wie ‚Reich’ oder ‚Herrschaft’ sind zudem geschichtlich belastet. Trotzdem möchten wir am Terminus ‚Reich Gottes’ als dem Zentralbegriff der Jesusbotschaft festhalten. Im Anschluss an Jesus verstehen wir unter ‚Reich Gottes’ eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens zwischen den Menschen – und darüber hinaus in der gesamten Mitwelt.

Die Schönheit unserer Erde ist sichtbarer Ausdruck der Gegenwart des Gottesreiches. Sie offenbart den Reich-Gottes-Charakter dieser Welt: ihr eigentliches Wesen. Wo Menschen dem Reich Gottes gemäß leben (Ehrfurcht vor allem Leben, einfacher Lebensstil, Solidarität, …), wird der Zustand der Welt ihrem Wesen mehr und mehr entsprechen. Wo aber der Zustand der Welt diesem Wesen nicht entspricht, ist es notwendig umzudenken und umzukehren. Diese Umkehr schließt verständnisvolles Mitgefühl ebenso ein wie gewaltfreien Widerstand gegen alles, was dem Reich Gottes widerspricht. Genau das lesen wir in den Jesusworten. Es geht um Gottes Welt in unseren Händen – und überall dort, wo der Welt-Zustand ihrem Reich-Gottes-Wesen noch nicht entspricht, ist das aktive Handeln der Menschen gefragt.

 

Reich Gottes und die Kirchen

In nachjesuanischer Zeit rückte – aufs Ganze gesehen – die Botschaft von Kreuz und Auferstehung ins Zentrum kirchlicher Verkündigung. In der paulinischen Theologie spielt die Jesusbotschaft von der Präsenz des Reiches Gottes keinerlei Rolle, im Gegenteil: Paulus und so gut wie die gesamte frühe Kirche erwarteten erneut (wie in der Zeit vor Jesus) den apokalyptischen Einbruch einer erlösten Welt; zunächst noch ganz nahe, später ferne. Das ist mit den klaren Anbruchsworten Jesu nicht nur unvereinbar, sondern es verkehrt ausgerechnet den entscheidenden Neuansatz der Jesus-Botschaft ins Gegenteil. Jesu Einladung, in dieser Welt wie im Reich Gottes zu leben, verwandelt sich dabei leicht in die Annahme, in dieser Welt könne noch gar nicht wie im Reich Gottes gelebt werden.

Unsere Kritik an der Vermischung der Anbruchsworte mit jenseitigen Erwartungen wird von einer Reihe bekannter Exegeten geteilt. Markus 1,15 beschreibt das Herbeikommen des Gottesreiches nicht als nahe bevorstehend, sondern als bereits abgeschlossenen Vorgang (M. Limbeck, G. Theißen). Insofern gleicht die frühchristliche Rezeption der Reich-Gottes-Botschaft einer Verlagerung ins Jenseits, und zwischen den Gegenwarts- und Zukunftsaussagen ist dabei ein eklatantes Missverhältnis entstanden (B. Heininger). Die ursprüngliche Jesus-Überlieferung schildert kein jenseitiges Gottesreich, sondern eines, das bereits gegenwärtig ist im Hier und Jetzt (J.M. Robinson). Apokalyptische Worte mit ihren zukünftigen Erwartungen kamen erst in späteren Textschichten hinzu (H. Köster).

Ist nicht die individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil uns fast völlig entschwunden?… Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem?… Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt…geht es doch (D. Bonhoeffer).


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