Zum Weihnachtsfrieden 1914

„Wir waren wie erschlagen, als ob der Krieg plötzlich aufgehört hatte.“ „Wir fühlten uns dabei glücklich wie die Kinder.“ „Es war ein feierlicher Abend, den wohl keiner in seinem Leben je vergessen wird.“ „Zwischen Schotten und Hunnen [englisches Schimpfwort für Deutsche] fand weitestgehende Verbrüderung statt. Alle möglichen Andenken wurden ausgetauscht, Adressen gingen her- und hinüber, man zeigte sich Familienfotos usw.“, notierte Captain Sir Edward Hulse in sein Bataillonstagebuch, als er aus dem Hauptquartier zurückgekommen war. „It was the most wonderful thing of the war“, war später in englischen Zeitungen von Augenzeugen zu lesen.

24. Dezember 1914 – Weihnachten, Weihnachten im Großen Krieg, der später als „Erster Weltkrieg“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Grauenvoll wie jeder Krieg von Anfang an, auch in den ersten Monaten schon, und dennoch: Gleich an mehreren Abschnitten vor allem der Westfront war dieses Weihnachten mehr als nur ein Datum im Kalender.

Meistens begann es damit, dass jemand ein Weihnachtslied anstimmte, „Stille Nacht, heilige Nacht“ zum Beispiel, wie besonders oft überliefert ist. Auf den Wällen einiger deutscher Schützengräben waren brennende Kerzen auf Tannenbäumchen zu sehen. Allen, die es hörten, allen, die beteiligt waren, muss sofort klar gewesen sein: Jetzt konnte nicht mehr gekämpft werden. Die Waffen schwiegen. Jeder Schuss hätte diese Nacht entweiht.

Doch solches geschah nicht nur auf der einen Seite der Front. Auch die Gegenseite hatte das Feuer eingestellt. Und nicht nur dies. Nicht nur, dass die Waffen schwiegen: Vorsichtig noch, voller Misstrauen zunächst, dann aber immer mehr überwältigt von der Magie dieser unfassbaren, wie erlösenden Augenblicke kam man aus den Schützengräben, ging aufeinander zu, wünschte sich frohe Weihnachten bzw. merry Christmas, tauschte Geschenke aus, spielte – unter primitivsten Bedingungen, auf vereistem Boden – miteinander Fußball. Man geht heute davon aus, dass mindestens 100.000 Soldaten der an der Westfront kämpfenden Parteien an dem Waffenstillstand teilgenommen haben. Schier unfassbar, aber wahr: Weihnachten hatte den Krieg unterlaufen, ja an mehreren Frontabschnitten zum Erliegen gebracht.

Ja, die Befehlshaber brachten ihn nach wenigen Tagen, nicht ganz ohne Mühe, wieder in Gang. Tod, Leid, Verwüstung, fürchterliches Elend griffen auch an den Orten des Weihnachtsfriedens und für Jahre wieder um sich. Was also ist es gewesen? Nur eine kurze Unterbrechung der Normalität? Hatte sich der Vorhang nach diesem kurzen Weihnachts-Schauspiel nun wieder geschlossen? War man wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt? Oder war es umgekehrt? Ist der Krieg das grausame Schauspiel, inszeniert von den Mächtigen in Industrie und Politik, die weitestgehend den Kontakt zum Leben und zur Welt verloren hatten, dort aufgeführt, wo sich Gottes Schalom ereignen will und deshalb immer wieder durchbricht? War es „der kleine Frieden im Großen Krieg“ (so der Titel des Buchs von Michael Jürgs über den Weihnachtsfrieden 1914), oder der Große Frieden, der „Friede auf Erden“, dem die Welt gewidmet ist? Hatte man an Weihnachten 1914, zumindest hier und da, die wahre Tagesordnung der Welt wieder aufgenommen, die weihnachtliche Tagesordnung, die weit über den 24. Dezember hinausgreift? Begann sich die Normalität des Reiches Gottes wieder einzustellen? Weihnachtsfrieden, Christmas Truce, Christmas Truth, wahre Weihnacht?

Und heute, 2014? Markiert Weihnachten vielleicht immer wieder einen Neubeginn? Ist es ein subversives Fest? Könnte die Wahrheit, die es zum Leuchten zu bringen vermag, könnte das Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen, mit allem Leben, ja mit der ganzen Welt, das die Botschaft Jesu, dessen Geburt wir feiern, in uns wachzurufen in der Lage ist, unsere Welt vom Kopf wieder auf die Füße stellen?

Diese mit den unglaublichen, in Deutschland lange als unpatriotische Entgleisung verschwiegenen Ereignissen des Jahres 1914 zusammenhängenden Fragen stehen im Mittelpunkt des Reich-Gottes-Gottesdienstes am 12. Dezember 2014 um 18 Uhr in der Jakobskirche. Herzliche Einladung!

 

 Text: Claus Petersen


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