Zum 15. Februar 1781

Gotthold Ephraim Lessing +

 

Gotthold Ephraim Lessing, Die Religion Christi

 

Denn der Vater will auch haben, die ihn also anbeten.
St. Johannes

§ 1

Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein: das ist ausgemacht.

§ 2

Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge.

§ 3

Jene, die Religion Christi, ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann; die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muß, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßen Menschen macht.

§ 4

Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, daß er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht.

§ 5

Wie beide diese Religionen, die Religion Christi sowohl als die Christliche, in Christo als in einer und eben derselben Person bestehen können, ist unbegreiflich.

§ 6

Kaum lassen sich die Lehren und Grundsätze beider in einem und ebendemselben Buche finden. Wenigstens ist augenscheinlich, daß jene, nämlich die Religion Christi, ganz anders in den Evangelisten enthalten ist als die Christliche.

§ 7

Die Religion Christi ist mit den klarsten und deutlichsten Worten darin enthalten;

§ 8

Die Christliche hingegen so ungewiß und vieldeutig, daß es schwerlich eine einzige Stelle gibt, mit welcher zwei Menschen, so lange als die Welt steht, den nämlichen Gedanken verbunden haben.

 

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 7, München 1970 ff., S. 711-712.
Entstanden 1780, Erstdruck in: G.E. Lessings theologischer Nachlaß, hg. v. Karl Lessing, Berlin (Voss) 1784.

Es ist unbekannt, in welcher Form Lessing die – in der von ihm gern benutzten thesenhaften Form niedergeschriebenen – Gedanken, die das Christentum – auf ungewohnte Weise – in seinem Uranfang, nämlich bei seinen „Stifter“ zu erfassen suchen und die die Konsequenzen einer historischen Betrachtungsweise, wie er sie leidenschaftlich verfolgte, ganz klar erkennen lassen, veröffentlichen wollte.
Karl Lessing druckte das Fragment erstmal 1784 im „Theologischen Nachlass“. Er datierte das heute nicht mehr vorhandene Manuskript auf 1780; diese Datierung erscheint als nicht unwahrscheinlich.
(Helmut Göbel in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden. Band III: Geschichte der Kunst, Theologie, Philosophie, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003, 809)


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