Zum 20. Oktober 2008

In Ecuador tritt eine neue Verfassung in Kraft, die wesentliche verfassungsrechtliche Neuerungen beinhaltet: Sie beruft sich auf die in der indigenen Kultur begründeten Leitbilder Pachamama („Mutter Erde“) und Sumak kawsay („gutes Leben“, spanisch „buen vivir“); als erstes Land weltweit räumt Ecuador in seiner Verfassung der Natur Rechte ein.

Die Leitidee des Buen Vivir verpflichtet die Regierungen auf ein neues Entwicklungsmodell. Sie verbindet traditionell-indigene Prinzipien mit westlichen Elementen wie Menschenrechten und der Gleichstellung der Geschlechter.

Prophet des Buen Vivir ist Alberto Acosta: Der international bekannteste Intellektuelle Ecuadors sorgte als Präsident der Verfassunggebenden Versammlung dafür, dass das Buen Vivir in Ecuador Verfassungsrang erhielt. Dazu kam es ein Jahr später, 2009, auch im Nachbarstaat Bolivien. –

Das Konzept “Sumak kawsay” (Kichwa) stammt aus der indigenen Region der Anden- und Amazonasregion. In seinen Ursprüngen handelt es sich um eine Weltanschauung, in deren Mittelpunkt Harmonie und Gleichgewicht mit der Natur und den Mitmenschen steht. Niemand soll auf Kosten anderer leben, auch nicht auf Kosten der Umwelt. Streng genommen heißt das: Soziale und ökologische Werte stehen über wirtschaftlicher Entwicklung und materiellem Wohlstand. Als Gegenentwurf zum kapitalistischen Gesellschaftsmodell wurde dieses Konzept zu einem zentralen Grundsatz der Verfassung von 2008.

 

Die Präambel der Verfassung von Ecuador lautet:

WIR, das souveräne Volk Ecuadors
IN ANERKENNUNG unserer jahrtausendealten, von Männern und Frauen verschiedener Völker gestärkten Wurzeln,
FEIERN wir die Natur, die Mutter Erde, deren Teil wir sind und die für unser Dasein lebenswichtig ist,
RUFEN wir den Namen Gottes an und erkennen unsere unterschiedlichen Formen der Religiosität und Spiritualität an,
APPELLIEREN wir an die Weisheit aller Kulturen, die uns als Gesellschaft bereichern,
und beschließen
als ERBEN der sozialen Befreiungskämpfe gegenüber allen Formen von Herrschaft und Kolonialismus
mit unserem starken Engagement für die Gegenwart und Zukunft eine neue Form des Zusammenlebens der Bürger und Bürgerinnen in Vielfalt und Harmonie mit der Natur aufzubauen, um das Gute Leben, das Sumak Kawsay, zu erreichen,
eine Gesellschaft zu schaffen, die die Würde der Menschen und Kollektive in allen Aspekten respektiert;
ein demokratisches Land zu schaffen, das sich der lateinamerikanischen Integration – dem Traum Bolívars und Alfaros –, dem Frieden und der Solidarität mit allen Völkern der Erde verpflichtet.

(Zitiert aus: Alberto Acosta, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. Aus dem Spanischen von Birte Pedersen, Oekom Verlag München, 5. Auflage 2017, S. 16f.)

 

Am 25. Januar 2009 gibt sich Bolivien eine neue Verfassung, in die auch das Konzept des „Vivir bien“ als suma qamaña Eingang findet.


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