Zum 9. November 1938

Mit der Progromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gehen die Nationalsozialisten zur offenene Gewalt gegen die jüdische Minderheit im Dritten Reich über.

„Nach gegenwärtigem Forschungsstand wurden im Verlauf der Novemberexzesse von 1938 etwa 1.400 Synagogen zerstört. Hunderte Wohnhäuser und eine weit höhere Zahl an Wohnungen wurden verwüstet und deren Bewohner gedemütigt, verletzt, beraubt. Bis zu 7.500 jüdische Geschäfte wurden zerstört und teilweise geplündert. Über 30.000 jüdische Männer wurden ab dem 10. November in Konzentrationslager eingeliefert. Die Gewaltaktionen und ihre unmittelbaren Folgen forderten, soweit bisher bekannt, 1.400 Todesopfer. Auch 80 Jahre nach den Novemberpogromen ist ihre genaue Zahl noch immer nicht erforscht.“ (Aus: Manfred Gailus, Das große Schweigen. Wie sich die Kirchen verhielten, als im November 1938 die Synagogen brannten, in: Zeitzeichen 11/2018, S. 45–47.45)

„In der deutschen Geschichte gibt es nichts, was mit den Pogromen im November 1938 vergleichbar wäre.“ (Raphael Groß, Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt, des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt und des Leo-Baeck-Instituts in London in seinem 2013 erschienenen Buch „November 1938“)

Helmut Gollwitzer thematisiert als einer der wenigen Pfarrer in dem Bußtagsgottesdienst vom 16. November 1938 zu Lukas 3,3–14 den Reichspogrom:
Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tag? Können wir heute noch etwas anderes als nur schweigen? Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das Predigen und das Predigthören genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang, als dass wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen ? Was muten wir Gott zu, wenn wir jetzt zu ihm kommen und singen und die Bibel lesen, beten, predigen, unsere Sünden bekennen, so, als sei damit zu rechnen, dass Er noch da ist und nicht nur ein leerer Religionsbetrieb abläuft ! Ekeln muss ihn doch vor unserer Dreistigkeit und Vermessenheit. Warum schweigen wir nicht wenigstens? Ja, es wäre vielleicht das Richtigste, wir säßen heute hier nur schweigend eine Stunde lang zusammen, wir würden nicht singen, nicht beten, nicht reden, nur uns schweigend darauf vorbereiten, dass wir dann, wenn die Strafen Gottes, in denen wir ja schon mitten drin stecken, offenbar und sichtbar werden, nicht schreiend oder hadernd umherlaufen : wie kann Gott so etwas zulassen ? – ach, wie viele von uns werden’s dann ja tun und in ihrer Blindheit keinen Zusammenhang sehen zwischen dem, was Gott zulässt, und dem, was wir getan und zugelassen haben. Wer Gott gegenüber seine Schuld nicht mehr eingestehen kann, der kann sie auch bald den Menschen gegenüber nicht mehr eingestehen. Da beginnt dann der Wahnsinn, der Verfolgungswahn, der den anderen verteufeln muss, um sich selbst zu vergöttern. Wo die Buße aufhört, ist es auch mit der Humanität zu Ende, da muss die Gemeinschaft zerbrechen.
‚Ihr Otterngezücht !‘ – so wird ein ganzes Volk angeredet. Würde der Täufer Johannes heute den gleichen Ruf erheben, so würde er wahrscheinlich als Landesverräter verschrieen und sicher würde sich in der evangelischen Kirche eine Einheitsfront finden, die ihn als Volksschädling und als Schädling der Kirche verurteilt und die Beziehungen zu ihm abbricht.
Es steckt ja in uns allen, dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in grausame Bestien verwandeln; wir sind alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen, durch die Trägheit des Herzens.
Was sollen wir denn tun? Zur Antwort rückt dir der Täufer Johannes im Augenblick der Vergebung deinen Nächsten vor die Augen … er hat nicht, was du hast. Du hast zwei Röcke, er hat keinen, – du hast zu essen, er hat nichts mehr, – du hast Schutz, er ist schutzlos, – du hast Ehre, ihm ist sie genommen, – du hast Familie und Freundschaft, er ist vereinsamt, – du hast noch etwas Geld, er hat keins mehr, – du hast ein Dach über dem Kopf, er ist obdachlos. Außerdem ist er dir noch ganz preisgegeben, deiner eigennützigen Gewinnsucht (erkenne dich im Spiegel der Zöllner) und deinem Machtgefühl (erkenne dich im Beispiel des Soldaten!).
Nun wartet draußen unser Nächster, Not leidend, ehrlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf!

Aus: Gabriele Lüdecke-Eisenberg und Gerhard Lüdecke, Widerständig glauben und leben. Die Protestantin Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“, Teil II, in: CuS. Christ(in) und Sozialist(in). Kreuz und Rose. Blätter des Bundes der Religiösen Sozialist(inn)en e.V. 2–3/2015, S. 21–26


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