Wächst das Reich Gottes oder ist es schon vollkommen präsent?
Ökumenische Initiative Reich Gottes – jetzt!
Diskussionspapier, Stand Februar 2010
Vorgelegt von: G. Breidenstein, C. Petersen, M. Pfisterer, V. Schäfer, H. Schröder, K. Simon, W. Sternstein
Einerseits beschreiben Worte wie Lk 17,21 („mitten unter euch“) oder Lk 14,16 (großes Gastmahl) die vollständige Präsenz des Gottesreiches. Andererseits sprechen aber die sog. Wachstumsgleichnisse klar von seinem Wachsen und Umsichgreifen. Dieser scheinbare Widerspruch verweist darauf, dass Jesus offenbar zwei Aspekte im Blick hatte, welche zusammengehören.
Der eine Aspekt befasst sich mit dem Wesen der Welt. Wir müssen nicht auf Erlösung hoffen, es ist schon alles bereit. Jesus hat uns für die stetige Gegenwart des Gottesreiches die Augen geöffnet. Niemand muss erst noch auf Gottes Eingreifen warten. Im Sinne des Charakters der Welt ist das Reich Gottes vollständig und überall präsent.
Der andere Aspekt betrifft den Zustand der Welt. Ungeachtet aller Missstände leben damals wie heute Menschen dem Reich Gottes gemäß und erfahren daran große Freude. Dennoch ist die Welt keineswegs überall im Zustand des Reiches Gottes: noch nicht überall trachten Menschen nach Frieden und Solidarität. Hinsichtlich des Zustandes der Welt muss das Reich Gottes wachsen, indem mehr Menschen als bisher umdenken und ihr Verhalten ändern. Aus heutiger Sicht ist dabei kein rasches oder stetiges Wachstum zu erwarten. Die Ergebnisse solcher Entwicklung werden sich wohl nur unter Rückschlägen einstellen. Zugleich ist aber völlig klar: Je mehr Menschen die Welt als Reich Gottes wahrnehmen und also umdenken, desto mehr wird der Zustand der Welt dem Reich Gottes entsprechen. Fazit: Dem Wesen nach ist die Welt schon jetzt Reich Gottes. Doch damit ihr Zustand diesem Wesen mehr als bisher entsprechen kann, müssen wir Menschen unser Verhalten ändern.
Im Verständnis der Kirchen leben wir in einer „noch nicht erlösten Welt“ (Barmer Erklärung These 5). Nach dieser Auffassung kann die Präsenz des Reiches Gottes nur unter Einschränkungen gelten. Kirchliche Theologie bringt dies in der Formulierung „schon – und noch nicht“ zum Ausdruck: Das Reich Gottes sei zwar schon anfanghaft nahe gekommen, wirklich begonnen habe es aber noch nicht. Die Anbruchsworte und Wachstumsgleichnisse der JesusÜberlieferung sprechen dagegen eine völlig andere Sprache: Sie beschreiben das Gottesreich als vollkommen präsent. Es ist herbeigekommen und jetzt da; gerade weil dies schon so ist, wird und kann es sich durchsetzen. Unter Anhalt an der Jesus-Überlieferung lässt sich das Begriffspaar „schon – und noch nicht“ also nur in dem Sinne verstehen, dass der Reich- Gottes-Charakter der Welt schon überall präsent ist, ihr Zustand jedoch diesem ihrem Charakter noch nicht überall entspricht. Dem „Schon“ kommt somit die entscheidende Bedeutung zu: es betrifft das Wesen der uns umgebenden Welt, und gerade deshalb erweist sich das „Noch nicht“ als prinzipiell überwindbar.