Gerhard Loettel, Die Reich-Gottes-Ansage Jesu nötigt zur Verantwortung für die Zukunft

1.    Ein große moderne Skepsis

 Es macht sich eine große Skepsis unter den Trägern der Zukunft unserer Menschheit breit, eher pessimistisch betrachten junge Erwachsene, die nun selbst Kinder in die Welt setzen, die Möglichkeit, das gesellschaftliche Miteinander in der Welt zu verbessern. Sie haben keine Hoffnung mehr darauf, daß sich die Welt ändern könnte: „Die Welt ist schlecht und unvollkommen und sie bleibt es, das war schon immer so und wird sich nicht ändern. Du bist ein hoffnungsloser Optimist, wenn Du noch immer davon ausgehst, daß man an dem Bösen in der Welt der Menschen etwas ändern könne. Was hat sich denn positiv verändert? Nichts!“ Das sind so etwa die Meinungen junger Menschen, die man auch aus dem Mund von jungen Christen beider Konfessionen hören kann. Dann gibt es daneben aber auch noch – meist bei älteren Menschen – die andere Skepsis, die sich aus dem Unbehagen oder der Befürchtung herleitet, diese sog. „Weltverbesserer“, Ökologen, Grüne und aufmüpfigen „Progressiven“ könnten den status quo des „Weiter so“ unserer industriellen Wohlfahrt stoppen und aushebeln. „Was brauchen wir Hoffnung und Hoffnungszeichen, wir haben doch alles und die abendländische industrielle Revolution hat doch schon bereits alles erdenklich Gute erreicht und wir haben doch hier einen unvorstellbar erfolgreichen und reichhaltigen Lebensstil auf der Basis dieser abendländischen und aufgeklärten Industriegesellschaft errungen, daß jede andere Hoffnung überflüssig, ja gar schädlich ist. Nur keine Experimente, es geht uns so gut wie nie seit dem Mittelalter“. Auf die Nachfrage, was dann aber aus den Verlierern und Tribut-zahlern unserer Wohlfahrt  mit den Hungernden der Welt und den leidenden und aussterbenden Mitgeschöpfen in der uns umgebenden Natur werden soll, bekommt man die Antwort: „Dazu braucht es keiner neuen Hoffnung und keiner Änderung unsres Verhaltens,  das wird sich automatisch positiv verändern, wenn wir in bisheriger industriell-technischer Weise fortfahren unser Wirtschaftsmodell in der Welt zu verbreiten“. Was mich daran so betroffen macht ist zum einen die Sicht, daß unter dem einen Raster, unter dem man so auf die Welt blickt, sich scheinbar tatsächlich seit dem Auftreten Jesus von Nazareth und seinem Reich-Gottes-Aufruf zur Erneuerung der Welt nichts bewegt hat. Legt man diese Vor-Stellung an, dann findet man tatsächlich Dinge, die auch früher schon gut waren und nicht von einer Entwicklung abhingen; und man findet etwas, was man auch zu den schlimmsten Zeiten von Fremdherrschaft und mittelalterlichen Zuständen als gut bezeichnen kann. Aber ist dieses Raster nicht ein allzu unheilvolles Vor-Urteil, durch das man verführt wird, keine Veränderung anzuerkennen, weil man bestätigt findet, was man a priori in sein Denken eingegeben hat. Zum anderen macht mich betroffen, daß unter dem anderen Raster – der Einstellung, wir hätten doch schon alles Gute erreicht – nicht wahrgenommen werden will, in welch bedrohlichem Maße das soziale, ökologische und weltpolitische Gleichgewicht auseinanderbricht. So macht es mich betroffen, welche Folgen solch skeptisches Betrachten der Welt und ihrer Menschen hat. Was will und kann man mit solcher Haltung für seine Kinder und Kindeskinder erhoffen und erreichen? Bedeutet das, man kann und will nun nichts mehr unternehmen in Richtung Kultivierung der Verhältnisse in der Welt und der Natur? Sollen doch die Nachkommen sehen, wie sie mit den unguten oder vermeintlich „guten“[1]   Verhältnissen zurechtkommen? Und will man diese Kinder dann so erziehen, daß sie sich willen- und tatenlos in das Schicksal einer dann vielleicht als bösartig und lebensfeindlich festgestellten Welt schicken, oder zusehen, wie sie notdürftig durchkommen? 

2.    Die Reich-Gottes-Sicht Jesu 

Betrachten wir doch einmal noch diesen jungen Jesus von Nazareth. Was hatte er zu sagen, was hatte er gelebt, was ist die Wirkgeschichte dieses jungen Mannes, dem die Mächtigen seiner Zeit das Leben nahmen, weil sie meinten, daß er nicht das Recht hätte, an ihren Macht- und Unrechtstrukturen zu rütteln? Er meinte, daß es ein Königreich Gottes gäbe. Semantisch bedeutete damals Reich, oder Königsherrschaft eine Gesellschaftsformation. Nun aber eben bei Jesus eine solche, die man göttlich nennen könnte. Heute würde man vielleicht sagen, eine Gesellschaft mit wahrhaft menschlichen Lebensverhältnissen. Denn der Mensch sei nach der Bibel zu Gottes Bild geschaffen. Und dieses göttliche Königreich sei keines der Ferne oder der Zukunft am Sankt Nimmerleinstag oder im Himmel, nein, „geht… und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“[2] „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch, es  ist inwendig in euch.“ Er sagte also sinngemäß seinen Anhängern, nicht morgen, nicht im Himmel, nicht irgendwo, nein jetzt und hier braucht ihr neue Verhältnisse, neues Leben, neue gute Beziehungen. „Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch.“[3] Und seine Nachfolger verkündeten: „Liebe Brüder, ihr seid zur Freiheit berufen… durch die Liebe diene einer dem andern.“[4] „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Laßt kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.“[5] „Desgleichen, ihr Männer, wohnt vernünftig mit euren Frauen zusammen und gebt dem weiblichen Geschlecht als dem schwächeren seine Ehre. Denn auch die Frauen sind Miterben der Gnade des Lebens, und euer gemeinsames Gebet soll nicht behindert werden.“[6] Sind das nicht geradezu Worte, die heute in keinem Grade weniger wahr, wichtig und zielweisend sind? Sind das nicht Zukunftsaussichten, aber auch Handlungsanweisungen für heute, die es seither von Jesus Zeit bis heute immer auch waren? Da höre ich die Skeptiker fragen: „Ist das nicht geradezu ein Aufweis, daß diese Lehre bis heute nicht gefruchtet hat“? Wir müssen diesen Aspekt, daß die Veränderung der Verhältnisse heute noch immer nicht gut sind beachten und beantworten. Doch selbst der Apostel Paulus schreibt im Brief an die Korinther: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“[7] Da wird nicht nur von der Möglichkeit gesprochen, daß in Gottes Welt Neues werden kann und wird und Altes (Böses, Leidvolles!) vergeht und vergehen wird, nein da wird ganz kühn behauptet: „Siehe Altes ist vergangen, Neues ist gekommen“. Das angehende Christentum lebt(e) also unter und von der Gewißheit, daß Veränderung von Altem zu besserem Neuen nicht nur möglich ist, sondern, daß es tatsächlich geschieht, „heute, so ihr seine Stimme hört“, wie es im Hebräerbrief heißt, „also verstockt eure Herzen nicht!“ Und weiter: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“.

„Doch … irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. … Laßt uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, laßt uns Gutes tun an jedermann…“[8] Das ist hier mal ein christliches Hoffnungsbekenntnis für die Zeit-des-Lebens des Paulus, der ansonsten wohl immer lieber ein Bekenntnis zur Erlösung im Jenseits bereit hatte. Hier aber geht es um Zukunft und gedeihliche Ernte in einem guten menschlichen Miteinander. Eine nachhaltige Pauluspredigt: Gutes tun und nicht müde werden dabei, solange wir noch Lebens-Zeit haben und solange noch Zeit ist, Verantwortung zu übernehmen, noch vor einem point of no return. Diese Predigt  ruft dazu, Gutes zu sähen, damit wir dann auch Gutes, Besseres in der Zukunft ernten werden, jeweils zu seiner Zeit, aber unter der Bedingung, daß wir nicht nachlassen im Säen des Guten. Zu seiner Zeit, d.h. doch aber auch, den geschichtlich langen Atem fließen lassen. Hier ist dem Paulus keine Skepsis anzumerken. Warum haben wir diese positive Sicht unseres Religionsgründers und Gottsuchers Jesus und seiner Nachfolger heute aufgegeben?

Doch auch das Positive muß beachtet werden: Dieses urchristliche Bewußtsein hat eine Wirkgeschichte entfaltet, die tatsächlich viel Gutes und Neues hervorgebracht und Böses abgeschafft hat, wenn auch noch keine endgültig humane, segensreiche Königsherrschaft Gottes in dieser Welt. Worauf aber kann man bauen, daß solche Wirkgeschichte weitergeht, was sind die tiefen Wurzeln solches neuen Wirkens in der Welt, in der es Neues unter der Sonne gibt? Ich denke es ist ein neues Menschenbild. Das neue Menschenbild ist ein direktes Ergebnis des neuen Gottesbildes, das den Menschen durch die Botschaft des Christus Jesus nahegebracht wurde. Und das wiederum hängt damit zusammen, daß Jesus uns offenbarte und dazu einlud, Gott als Vater und uns untereinander wie Schwestern und Brüder anzusehen. Das Gottesbild prägte das Menschenbild. Und das Gottesbild wurde wiederum angenommen, weil es Menschen in Not und Bedrängnis zu einer neuen Hoffnung, einem neuen Vertrauen und Selbstvertrauen verhalf. Und zu diesem neuen Gottesbild gehörte auch, daß Jesus gegen den alttestamentlichen Schöpfungsglauben an eine scheinbar unrevidierbar von Gott so vorgegebene und so verwaltete Welt protestierte. Er protestierte gegen die aus seiner Sicht unvollkommene und leidgeprüfte Welt, indem er versuchte, Veränderungen und Heilungen herbeizuführen, wo immer ihm das möglich erschien. Das ist das Grundmotiv all seiner Aufforderungen zur Armenpflege, zum Hungerstillen, zur Hilfe für Witwen und Waisen, all seiner tätigen Anteilnahme an den Leiden der Menschen seiner Zeit, die von seinen Nachfolgern dann als Wunder und Wunderheilungen beschrieben wurden. Das alles ist ein Protest gegen das So-sein der Welt und ein Appell an seine Anhänger, tätig und mit Hoffnung gegen diese Unvollkommenheit vorzugehen. Selbst die Freundschaft seiner Jünger knüpfte er an die Bedingung des Einsatzes für die Hilfe an den Leidenden dieser Welt: …und er wird zu ihnen sagen: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“[9]

Die Grundkonzeption zum biblischen Menschenbild aber ist die: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, er schuf ihn als Mann und Frau“. Hierin steckt die Aufforderung zum Dialog, dem Dialog Mann-Frau, dem Dialog unter Menschen und dem Dialog von Mensch zu Gott. Gott spricht zum Menschen, spricht ihn mit du an, fordert etwas… . Gott verpflichtet in diesem Dialog den Menschen zum Handeln

3.    Die Wirkgeschichte der christlichen Botschaft 

Und was geschah geschichtlich tatsächlich? Nun, im Jahre 400 n.Chr. wurden in Rom die Gladiatorenkämpfe verboten. In der spätantiken römischen Kaiserzeit ging die Sklaverei stark zurück, lebte zwar in den christlichen Ländern Europas im 10. Jahrhundert leider aber wieder auf und wurde in Europa erst im 19. Jahrhundert abgeschafft. Und noch immer gibt es Kriege. Indes wurden unter dem Einfluß des Christentums Armenhäuser, Altenheime, Siechenheime und Rechtssysteme für alle, sogar eine Kriegskonvention, geschaffen. Ein erstes Modell zur Ächtung kriegerischer Konfliktaustragung. Mildtätigkeit und Barmherzigkeit waren nun  nicht mehr verachtet, sondern anerkannte Tugenden. Große Teile der Visionen der ersten Christen sind jedoch tatsächlich noch immer Träume, die auf ihre Verwirklichung warten. Sie werden aber ebenso immer als Menschheitsziel hochgehalten. Dies zeigt auf, daß tatsächlich die Macht des Bösen und Leidvollen nicht ein für alle Mal verdrängt und verändert werden kann. Man sollte dabei zweierlei bedenke: Erstens zeigt die obige Aufzählung, daß solche Veränderungen, zumal wenn sie Bestand haben sollen, lange geschichtliche Zeiträume – den langen Atem – erfordern. Und zweitens, daß die menschliche Natur so beschaffen ist, daß sie in jedem Heute immer wieder auf die Angebote und Möglichkeiten Gottes und des Menschen selbst aufmerksam gemacht werden muß, um dem Neuen zu wirklichen Siegen zu verhelfen. Also heißt es, mit dem langen geschichtlichen Atem die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Vergangenheit und in die Zukunft hinein betrachten! Und dazu bedarf es eines langwährenden, geduldigen globalen Dialoges, der in der Lage ist, die menschliche Natur in kleinen Schritten (daher die lange geschichtliche Zeit) zu verändern. Der junge Jesus wußte dies. Er hat keine sofortige neue Gesellschaftsordnung heraufbeschworen, er wußte aber. Ihr habt es in Euch! Ihr könnt es, ihr müßt es versuchen und tun, und sagen: „Jes we can !“ Der Prager Philosoph Milan Machovec sagte dazu: Was wir brauchen ist der „demütige Dialog, in Liebe und mit Schutz- und Verteidigungsbereitschaft“. Und dazu müssen wir „für das künftige Europa den globalen Dialog eröffnen… . In der Zukunft, wenn wir Älteren nicht mehr da sein werden, müssen die Jüngeren des vereinten Europa für den kosmischen Christus arbeiten, für Christus, der alles Gute – auch von Islam und Buddhismus – umfaßt“[10]. Das ist das Bekenntnis eines Marxologen und Philosophen zu dem Wirken und der Wirkgeschichte des Mannes aus Nazareth und ein Bekenntnis zur möglichen Veränderung und Verbesserung menschlicher sozialer und ökologischer Verhälnisse. Wollen wir dahinter zurückbleiben? Was können wir Alten den jungen Skeptikern erzählen, womit ihnen Mut machen? Vielleicht ist da ein Zugeständnis notwendig und das heißt: Allzuschnell und optimistisch haben wir in Kirche und Gesellschaft mögliche Veränderungen und den Gewinn neuer Verhältnisse zwischen Menschen und zur Mitschöpfung unter dem Stichwort von Fortschritt und Entwicklung  propagiert. Beide Ausdrücke suggerieren einen linearen, kontinuierlichen, ungebrochenen bigger-and-better-Aufstieg aus schlechten zu guten Verhältnissen. Die Wissenschaft und die Wirtschaft suggerierten dabei noch einen ganz aus den materiellen Veränderungen und Errungenschaften resultierenden Aufschwung. Synonym für Aufschwung steht da noch Wachstum und Entfaltung. Das sind alles aber Ausdrücke, die lediglich verlangen, daß man nur etwas vergrößern oder auseinanderfalten müsse, was es schon gibt und das sei außerdem etwas, was aus materiellen Ressourcen technisch-ökonomisch gemacht werden könne. Man hat also nicht die Auffassung, daß sich im Menschen etwas verändern muß, daß erst wir Menschen uns verändern müssten –  „heute, wenn wir seine Stimme hören“ – ehe sich unsere Verhältnisse ändern können. Diese wissenschaftlich-technisch-ökonomisch machbaren Fortschritte sind allzu selbstsicher auf den autonomen menschlichen Verstand aufgebaut, dieser technisch-ökonomische Verstand anerkennt nicht, daß die Vernunft des Menschen umfangreicher ist als dieser rationale Verstand und sie selbst ein Geschenk ist, und daß das von Jesus angekündigte Kommen des Neuen auch vom Geber dieser Gaben abhängig ist. Denn der Mensch muß es ernst nehmen, daß sich seine Zukunftsplanungen und Entscheidungen nicht aus diesem vermeintlich autonomen Verstand herleiten, sondern erbeten sein müssen, damit die geschenkte Vernunft mit dem Gewissen, der Treue, der Barmherzigkeit und der Verantwortung vor Gott und den Menschen eine Ehe eingehen können. „Daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; daß Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue, daß uns auch der HERR Gutes tue, und unser Land seine Frucht gebe.“[11]

Das alles ist nicht Entwicklung im heute verstandenen Sinne von technisch-materiellem Fortschritt. Wenn wir schon den Ausdruck Entwicklung gebrauchen, dann müssen wir ihn neu verstehen, Entwicklung ist dann allenfalls die Selbst-Entwicklung des Menschen, das Aus-wickeln seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten, seiner wahren Menschlichkeit und Verantwortung, seiner mitmenschlichen Zuneigung und Liebe. Wir haben ein Weihnachtsgeschenk von Gott bekommen, ein Weihnachtspaket, das viele von uns noch nicht einmal ausgepackt, ausgewickelt haben. In dem Päckchen sind verpackt die humane Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit und mitenthalten darin das Gewissen, die Verantwortung und die Barmherzigkeit mit den Notleidenden. Erst wenn wir alle dieses unser Päckchen ausgewickelt und das Geschenk angenommen haben, werden wir der Menschlichkeit auf unserem Planeten ein Stück weit näher kommen. Das ist der tiefere Grund, warum es sich Gott einfallen ließ, in einem Menschen so dialogisch wirksam zu werden, daß seine (An)gebote[12] einleuchtend und real werden konnten. Durch Jesus wollte er uns bitten, doch sein Weihnachtspäckchen auszuwickeln. Das ist die Geschichte der Menschwerdung Gottes zur Rettung der Welt, die mir ein alter Mann nahebrachte. 

4.    Die Macht der Weihnacht 

Alle Jahre wieder saß ein sehr alter Herr in meinem Weihnachtsgottesdienst am 25. Dezember. Er kam jedes Mal mit seinem Sohn, bei dem er stets Weihnachten zu Besuch weilte. Beim Verabschieden am Ausgang nach dem Gottesdienst sagte er mir alle Jahre wieder den Satz: „Herr Pfarrer, wenn ER nicht geboren worden wäre, so wäre die Welt vergangen.“ Ich bestätigte ihm diesen Satz immer wieder, registrierte für mich damals aber nicht mehr als die Wiedergabe eines theologischen Satzes, den er womöglich von seinem Ortspfarrer gehört hatte oder vielleicht sogar seit seiner Konfirmation für sich erinnerte. Und doch hat mich nun Jahre nach meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst dieser Satz wieder eingeholt und betroffen gemacht: Dieser alte Herr hat einen ganz wesentlichen Satz gesagt und hat mir eine Botschaft nahegebracht, die außerordentlich bedeutungsvoll und für uns entscheidend ist. 

Haben wir uns denn je bewußt gemacht, was es mit diesem Satz ganz real auf sich hat? Jesus von Nazareth wurde geboren, lebte unter uns, lehrte uns und wurde damit der Christus der Welt, der Retter der Welt. Eine  göttliche Geburt. In diesem Jesus kam Gott den Menschen ganz nahe, ein Gotteskind, um auch uns zu Gotteskindern zu machen. Nun hatte sich die alles überwindende Liebe Gottes auf der Erde verankert[13]. Durch Jesus war sie eingegangen in die Gewissen, in die Verantwortung, in die Hoffnung und den Gestaltungswillen von Menschen hier auf der Erde. Die Macht der Weihnacht. Und sie konnte nach dieser Geburt nie mehr wieder verloren gehen. Man wollte sie mit Jesus am Kreuz totschlagen, es mißlang, sie stand auf. Und seither steht sie immer wieder auf. Diese Liebe stellt sich gegen all die Versuche, die Welt in ein Chaos und ein liebloses machtgieriges, egoistisches Miteinander der Menschen zu verwandeln. Da waren schon die Bestrebungen des antiken Roms, die ganze menschenbewohnte Erde mit einem Machtimperium zu überziehen. Immer weitere versklavte Völker sollten die immer raffinierteren Bedürfnisse der freien Römer befriedigen. Kriege, Gladiatorenkämpfe, Mord als Belustigungsorgien verfinsterten die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes. Doch die Macht von Weihnacht brach sich Bahn und lies nicht zu, daß die Welt verlorenging. Rom ging vielmehr unter, nicht die Welt. Seit Rom war das Böse in der Welt weiterhin bemüht, die Herrschaft zu übernehmen durch Kriege, Eroberungen, Versklavungen, Ausbeutungen, Kolonialisierungen, Religionsfeldzüge und Kriege bis hin zu den beiden Weltkriegen in unserer Zeit. Das nicht letzte aber das wohl ungeheuerlichste Aufbäumen des Bösen in der Welt war dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus vorbehalten. Der Nationalsozialismus war dabei, die Menschenliebe völlig auszurotten, die Würde des Menschseins der Macht und der Ideologie untertan zu machen. Die Macht der Weihnacht wurde ganz klein; wer konnte es denn wagen, gegen die gewaltigen Machthaber die Nächstenliebe einzusetzen? Viele gaben auf. Und doch blieb die Liebe letztlich wieder Sieger. Der Hitlerismus riß zwar viele von uns, die wir nicht imstande waren gegen das Böse aufzustehen, mit in Tod und den Untergang. Das waren Menschen in den KZ-Lagern und unsere Väter im Krieg, sowie unsere Mütter, Frauen und Kinder in den zertrümmerten und verbrannten Häusern.

Aber inmitten der Trümmer unserer Städte und Dörfer standen dann die Trümmer-Frauen und Mütter und versorgten ihre Kinder mit Nahrung und mit neuer Liebe, räumten die Trümmer weg und putzten deren Steine, um daraus neue Heimstätten für Familien und für menschwürdige Zustände zu bauen. Wäre ER nicht vor 2000 Jahren geboren worden und hätte uns in der Liebe unterwiesen, wäre die menschliche Welt vergangen. 

Doch Hitler war nicht das letzte Aufgebot des Bösen. Stalin lebte weiter und er und sein System versuchten, die Menschenwürde weiter zu begraben. Gegenkräfte waren gefangen in der Versuchung, Böses mit Bösem zu besiegen. Die Atombombe sollte die Menschenwürde erhalten. Ein untaugliches Mittel zu einem vorgestellt gutem Zweck. Käme sie zum Einsatz, wäre die Würde lediglich nur noch ein Flammenzeichen aus verbrannten Leibern am nächtlichen Himmel. Bis heute hat die Macht der Weihnacht verhindert, gute Ziele mit untauglichen Mitteln zu erzwingen. Nicht zuletzt haben wir diesen Kampf zwischen der Macht der Liebe und der Macht des Bösen erlebt als russische Kriegsschiffe mit Raketen Kurs auf Kuba nahmen und mit einem Gegenangriff aus Amerika konfrontiert wurden. Wäre ER nicht geboren, wäre die Liebe nicht in die Welt gekommen und geblieben, damals wäre die Welt verloren gegangen. Die Liebe aber, die sich der Gewissen, der Verantwortungen, der Hoffnungen und eines  vorausblickenden Verstandes bediente, siegte und rettete die Menschheit. Doch die Macht der Weihnacht hat noch immer zu tun. In subtiler Weise versucht heute die Machtgier auf dem Klavier der egoistischen Bedürfnisse zu spielen, Leistungssteigerung, Wachstum, einseitiger Wohlstand durch ungebremste Industrialisierung, Konkurrenz als Erfolgsmotor, das sind die neuen Mittel, die Würde des Menschen unterzuordnen und auszuschalten. Mit dem beschönigenden Wort vom Kollateralschaden wird verlorenes Menschsein, werden Kriegstote und Hungertote, wird die verlorene Würde ― durch Ausbeutung, Unterdrückung,  und Verunglimpfungen ― nun gebilligt und gutgeheißen. Und wieder steht auch hier noch auf allen Seiten die Option eines Atomkrieges auf der Tagesordnung. Das ist immer noch die Gefahr, die Welt verloren zu geben, denn die Raffgier nach Futter an Rohstoffen und Energieträgern für den industriellen Wohlfahrtsmoloch macht nicht Halt vor der Drohung mit der Atombombe. Doch jede Drohung hat in sich das Potential, ja geradezu die Notwendigkeit, der Drohung Folge zu leisten, um sowohl glaubhaft zu bleiben als auch den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Aus jedem ersten Einsatz von atomaren Waffen folgt jedoch unweigerlich die atomare Antwort der so Angegriffenen, und der atomare Kollaps der Menschheit wäre dann nicht mehr aufzuhalten. Doch die Macht der Weihnacht hält Wacht. Nun bedienen sich schon Viele des liebegeleiteten Gewissens und des würdeverpflichteten Verantwortungsbewußtseins, christliche Gruppierungen mit nichtreligiösen Formationen aus der Zivilgesellschaft übernehmen mehr und mehr die Verantwortung und versuchen machtbesessene Obrigkeiten und internationale Finanzorganisationen von ihren untauglichen Mitteln abzulösen. Gegen jede Hoffnungslosigkeit und Entmutigung, die befürchtet, daß das Böse siegt, steht die Weihnachtsbotschaft: „Wenn ER nicht geboren worden wäre, so wäre schon die Welt vergangen.“ 

5.Wie glückt das Neuwerden der Gesellschaft 

Das aber muß aus dieser Betrachtung auch gelernt werden, was den Skeptikern zugutegehalten werden muß. Das Neuwerden der gesellschaftlichen Welt ist kein kontinuierlicher Fortschritt, da gibt es Rückschläge und Katastrophen, ja Abbrüche, bei denen man meint, nun ist alles aus und verloren, und es gibt nichts Neues unter der Sonne. Solch ein Erleben muß den Nachfolgern des jungen Mannes aus Nazareth beschieden worden sein. Die ganze Hoffnung auf ein neues Zusammenleben, welches Jesus sogar als ein Himmelreich bezeichnet hatte, und von dem er sagte: „Kehrt dorthin um, zum Himmel in Euch, dies ist schon ganz nahe bei euch!“; diese Hoffnung brach völlig in sich zusammen als Jesus am Kreuz elendig umgebracht wurde, im Namen des bösen Alten, der Machtbesessenheit. Doch dann kam zur Macht der Weihnacht, die Macht von Ostern. Nein, das Wirken des neuen, guten humanen Miteinanders in der Einheit mit Gott ist am Kreuz nicht mit gestorben, es ist aufgestanden aus der Schmach und wirkt weiter, ja wächst und wächst und erobert(e) sich ein ganzes Weltreich, zunächst das weltweite Imperium Romanum. Eine Weltbewegung entstand/entsteht, auf der nun Neues aufbauen kann, nicht materiell, nein durch Liebe und Güte und Zuwendung. Doch dies braucht Formen, muß in neue Gesetze gegossen werden, in Demokratie, Menschenrechte, Institutionen. Natürlich setzt sich auch das Vergewaltigungsdenken derer wieder durch, die schon den Jungen aus Nazareth gemordet hatten. D.h. Neues entsteht nicht und nicht immer kontinuierlich aus dem Alten. Da gibt es Brüche und Abbrüche, Katastrophen aber auch Neuanfänge. Aber Abbrüche sind auch das notwendige Abbrechen von alten Verhältnissen. Ständig geschahen solche Abbrüche um uns, denken wir an:

– Sklaverei, Duelle, Städtefehden, Blutrache, feudalen Übermut, Recht der ersten Nacht, Frühsterblichkeit der Kinder usw. Das alles waren vernichtenswerte Entwicklungen. Andere Abbrüche müssen noch inszeniert werden, wie z.B. die Unterdrückung der Frau, die Ungerechtigkeit der Verteilung der Lebensgüter – in den Bereichen arm-reich, Nord-Süd, weiß-schwarz, herrschend-ausgebeutet – den Hunger von Kindern, das Straßenkinderelend, die Zwangsprostitution, den Krieg und den Terror u.v.a.m. Da muß einerseits ein radikaler Bruch geschehen, und wir erwarten ihn sehnlichst, und andererseits sollte die Welt dabei weiter auf eine gute Schöpfung zugehen. Doch dieses Auf-das-Neue-Zugehen hat zwei Bedingungen. Zum ersten die Anerkenntnis, daß es Neues unter der Sonne  gibt: „das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“[14]. „Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich’s euch hören.“[15] „Denn der HERR wird ein Neues im Lande schaffen.“[16] Und zum zweiten, daß es Anstrengung kostet, das Neue auch zu gestalten und zu handhaben: „… tu dir selbst so viel Gutes an, wie du kannst…“[17] „… liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft.“[18] Diese Anstrengung ist nicht allein ein gehorsames Wollen, es ist daneben auch wiederum ein Gottesgeschenk, denn es bedeutet nichts weniger als einen Bewußtseinssprung in unserem Denken und Fühlen. Man spricht von einer notwendigen Fulguration, einem blitzartigen Neuwerden unseres Bewußtseins. Und solche Fulgurationen gab es tatsächlich in der Geschichte der Menschheit, blitzartiges neues Denken und daraufhin folgende neue Gestaltungen. Wer hätte sich vor der Bildung unserer heutigen Nationalstaaten auch nur ausdenken können, daß die Privat- und Blutfehde, die Duelle und Städtefehden durch Rechtsschutz, Staatsjustiz und den entsprechenden Institutionen abgelöst werden könne. Wer hätte die Einführung des Ackerbaus, den Städtebau, die Großreiche, die Hochreligionen, die Kirchen und Tempel, die Wissenschaft und die Technik, die allgemeinen Menschenrechte, die Gesundheitsfürsorge, die modernen Medizin, die soziale Gerechtigkeit als einer Forderung des Christentums  u.v.a.m. voraussagen können. Und dies waren keine kleineren Schritte als es heute der Schritt zu einer Weltordnung und zu einer ökosozialen Gesellschaftsverfassung wäre. Alle 1000 Jahre geschieht eine ungewöhnliche wirkliche Neuerung in der Geschichte der Menschheit. Nach den wissenschaftlich-technischen Neuerungen, wäre wohl nun heute eine Bewußtheitserneuerung mit einer daraufhin folgenden Neuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Errichtung eines Friedens mit der Schöpfung auf dem ganzen Globus dran[19].

Alle diese Gedanken folgen den Vorstellungen uralter biblischer Weisheit und Zukunftsverheißung, folgen einem Gang der Schöpfung hin zu Neuem und Schönem und Gutem.

Da ist die großartige Vision des Jesaja[20] vom Friedensreich des kommenden Messias (Christus), in der es unter anderem heißt: „Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.“

Hier ist absolut ein Miteinander von radikalem Bruch und Weitergang im Neuwerden geschildert. Selbst das entwicklungsbedingte Fressen und Gefressenwerden soll überwunden werden, doch es gibt im Weitergang Kühe, Bären, Löwen, kleine Kinder, Stroh und Rinder. Natürlich ist das für unsere aufgeklärte Vernunft ein vernunftloses Bild. Aber es ist ja auch keine Schilderung eines künftigen Zustandes, sondern die Vision, die Metapher für eine völlige und weitgehende Erneuerung der Schöpfung. Sie ist so neu, daß sie nur erst in Gottes Geist wirklich ist. Diese Wirklichkeit ist uns Menschen heute noch verborgen. Doch als das Bild einer gewaltfreien Welt ist es eine ungeheuer wichtiges Zukunftsbild für unser Denken, Fühlen und Handeln auf Zukunft hin. Und dieses neue Denken – zu dem Jesus auffordert, indem er sagt: „Kehrt um, denkt neu, denn das Reich der Himmel naht sich euch“ – muß der Skepsis als ein neuer Impuls aus der Realität von Weihnachten und Ostern entgegengesetzt werden. Doch diese Realität eines Denkens von Gottes Adventus her wird – wie gesagt – mehr und mehr von einer Skepsis aufgeweicht, die sich aus der Darwinschen Evolutionstheorie herleitet und den Menschen als ein Naturwesen versteht, nach dem der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Das ist natürlich eine pessimistische Sicht, die Ansicht eines zynischen Sozialdarwinismus, es ist das Weltbild der zeitweiligen Sieger. Und doch ist es nicht einmal realistisch, denn es ist nicht nur schlechte Naturwissenschaft, sondern auch schlechte Evolutionstheorie, d.h. sogar nicht einmal auf dem Niveau der Darwinschen Theorie, es ist außerdem eine unerlaubte sozial-philosophische Übertragung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die menschliche Gesellschaft.

Der Skepsis eines enttäuschten teleologischen oder Fortschrittsdenkens steht das Verantwortungsdenken des Physikers und Philosophen C. F. von Weizsäckers gegenüber. C. F. von Weizsäcker kennt die elementare Erfahrung unserer Zeit, das unerträglich gewordene Gefühl der Entfremdung zwischen den materiellen  Objekten und dem Bewußtsein des Subjektes, das durch keine Gottesnähe mehr getragen wird, und das so zur weiteren Entfremdung zwischen den ‚verdinglichten‘ Subjekten führt. Menschen sind nur noch Kunden, Patienten, Mandanten, Käufer, Arbeitnehmer, Humankapital, die in Zahlen und/oder Werten abgerechnet werden. Bei Weizsäcker hebt sich dagegen eine „Doppelgestalt des Geistes“[21],[22] ab. Mit dem einen Aspekt des menschlichen Geistes, der die Fähigkeit zum Abstrahieren und Objektivieren hat, findet der Mensch wissenschaftliche Gesetze mit denen er technische Apparate herstellen und funktionieren lassen kann. Der andere Aspekt des Geistes kann uns nur begegnen, auf-uns-zukommen, ist so aber nicht verfügbar. Er kann nur gehört und als Geschenk erfahren werden. Mit Hilfe dieses Geschenkes kann man keine materiellen Funktionen in Betrieb setzen, aber solche personelle Begegnungen finden, die den Dialog, die Sicht des Notleidens, der Barmherzigkeit, des Miterleidens und der Nächstenliebe möglich machen. Um dieses Geschenk aber darf man bitten und diese Bitte heißt Gebet.

Auf der Basis solcher Erfahrung von den „zwei so verschiedenen Weisen“ des Geistes kann C.F. von Weizsäcker Verantwortung begründen. Er vertritt den Standpunkt, daß diese zwei Weisen nicht getrennt werden dürfen. Denn der Verstandes-Bereich des Handelns mit Objekten – in Wissenschaft und Technik und Wirtschaft – sollte auch immer mit wahrer Vernunft verbunden sein, um Verantwortung zu erkennen. Wahre Vernunft ist aber eine solche aus dem ganzen Geist. Als ganzer Geist hat dieser den genannten Doppelaspekt, der wird sichtbar bei der Anwendung in der Praxis. Denn dort zeigt sich die Grenze der Objektivierbarkeit, wie sie in den Wissenschaften und im technischen Verstehen geübt wird. Und hier gerät nun dieser unverfügbare Aspekt des Geistes ins Bewußtsein. Er äußert sich in einem ethischen An-Spruch. Damit wird diejenige Natur unseres Geistes erfahrbar, die sich auf eine geschenkte Vernunft gründet. Sie hat Zugang zu ethischen Empfindungen. Der hier nun auf uns zu-kommende An-Spruch wird von uns als Ver-Antwortung erwidert. Andererseits darf man neben diesem Aspekt des Geistes nicht den objektivierenden Verstand verbieten, denn dann kann die Verantwortung nicht mehr ihren heute notwendigen Aufgabe gerecht werden, nämlich den Notleidenden mit allen technisch möglichen Mitteln zu helfen. Diese Dimension des Geistes der Liebe würde dann in den Himmel der privaten und unverbindlichen Glückseligkeit abtriften. 

Der geschenkte Geistaspekt des Mitempfindens und des Gewissens  ist offen in Hinblick auf die Zukunft. Er wächst und Erkenntnisse solcher Erfahrungen vermehren sich, u.U. auch in einem Bewußtseinssprung. Doch diese Entwicklung aus dem verengten objektivierbaren Aspekt des Verstandes heraus befindet  sich erst am Anfang. Daher kann man nicht mit einer sofortigen Rücknahme aller objektivierenden Tendenzen in Naturwissenschaft und Technik rechnen. Aufgabe der Theologie und des Glaubens, die diese andere Geisteshaltung als tradiertes Gut besitzen, muß es sein, der Wissenschaft aufklärend entgegenzukommen, und ihr die Fragen formulieren zu helfen, die dann im Raum gemeinsamer zeitlicher Erfahrung – und tradierter vergangenen Erfahrung –  beantwortet werden müssen.

Offensichtlich muß aufgeklärter Glaube und eine Theologie, die das Adventusgeschehen Gottes ernst nimmt, nicht nur der Wissenschaft aufklärend entgegenkommen, sondern auch einer Vielzahl verzweifelt skeptischer Zeitgenossen gerade der jüngeren Generation, sowie westlichen Intellektuellen. Diese traurige Verzweiflung an den Zuständen der Welt drückt sich ja in der Angst aus, „daß man ja doch nichts ändern kann.“ „Wer diesem Fatalismus verfällt, wird oft zum Zyniker“ obwohl dieser Zynismus „durch die Fakten selten gestützt werden kann“ und verbunden ist mit unwilliger „Bedenkenträgerei gegenüber möglichen Fortschritten“, und ist somit ein alarmierendes „Strukturproblem … am Beginn des 21. Jahrhunderts.“ „Es ist einfach nicht war, daß wir auf dieser Welt nichts verändern können…“ es gibt „auf diesem reichen Planeten kein unentrinnbares Schicksal.“ [23]

Blickt man mit dem Raster einer veränderbaren Welt auf die gesellschaftliche Veränderung der Menschheit, dann gibt es immer wieder geschichtliche Stationen, in denen Menschen nicht glauben konnten, daß sich etwas zum Besseren ändern könne, und doch geschah dann das Unerwartete. Das sind Stationen wie:

  • Die Proklamation der Feindesliebe durch Jesus vor 2000 Jahren, die Jesus zwar sogar den Tod einbrachte und doch heute Millionen Menschen davon überzeugte, daß Pazifismus intelligenter ist als Kriegspolitik.
  • Die Abschaffung der scheinbar gottgegebenen Sklaverei vor etwa 300 Jahren.
  • Der noch vor 200 Jahren unerfüllbar scheinende Traum von Demokratie und Freiheit beginnt sich heute langsam für fast die Hälfte der Menschheit Stück für Stück und Land für Land zu erfüllen. Die Abschaffung der Kinderarbeit und die Einführung des Achtstundentages sollte den Untergang des Abendlandes bedeuten, und heute streiten Gewerkschaften, NGO’s, Kirchen, Händler und Käufer nun gegen die Ausbeutung von Kindern in Indien, Afrika und anderen 3.-Welt-Ländern.
  • Das Frauenwahlrecht – noch vor 100 Jahren heftig umstritten – ist heute in den meisten Ländern selbstverständlich.
  • Die „Erbfeinde“ Deutsche und Franzosen haben sich noch vor 70 Jahren gegenseitig umgebracht und sind heute Kernländer eines Europa, das sich aus den europäischen Vormachtskriegen heraus zu einer Union entwickelt hat.
  • Die Wiedervereinigung der Deutschen war vor 20 Jahren ein belächelter Traum und dann gab es kurz vor der Jahrhundertwende eine in Europa einmalige unblutige, friedliche Revolution, die Europa nicht nur diese neue Möglichkeit bescherte, sondern in derem Gefolge auch die friedensstabilisierende Erweiterung der EU um Ostdeutschland und die Länder Ost-Mitteleuropas.

Und wenn wir diesen Unglauben auf die gegenwärtige Zeit beziehen, so kann man sagen:

  • Noch vor 10 Jahren waren die Ökologen, die Klimabesorgten, die Friedensaktivisten, die Streiter für eine gerechtere Welt im Nord-Süd-Ausgleich belächelte Narren, und heute gibt es Gipfeltreffen, Klimakonferenzen, G8- Treffen und eine immer mehr boomende Ökoindustrie mit industriellen Einsteigern ins Solarzeitalter mittels nachhaltiger Energiegewinnung (in die selbst Konzerne wie Shell und BP einsteigen).[24]

Es ist merkwürdig erstaunlich, daß es heute wieder einmal dipolare Ansichten und Entwicklungen in unserer Welt gibt. Auf der einen Seite der beklagenswerte Fatalismus und die Skepsis nicht nur in der jüngeren Generation – sondern auch bei politischen Repräsentanten wie Vaclav Klaus in Tschechien oder den Politikern um die ehemalige Bush-Administration in den USA, oder bei gewinnorientierten Industriemanagern in Europa und anderswo – die es nicht scheuen, wissenschaftlich zu 99% anerkannte Wahrheiten zu negieren, und auf der anderen Seite gibt es eine wachsende Zahl von Analysierern, Warnern, Helfern und Aufklärern. Zu diesen gehören sowohl Journalisten, Psychologen und Ökowissenschaftler, als auch Industriemanager und Unternehmer, Banker, Wirtschaftswissenschaftler und neuerdings Politiker.[25] Man soll nicht meinen, daß diese Entfaltung der Idee einer verbesserlichen Welt allein auf der Basis der christlichen Religion gewachsen ist und wachsen kann. Es gibt auch im Koran eine Erkenntnis, die ebenso zur Basis der Rettung der Welt werden kann: „Wenn Du einem Menschen das Leben rettest, rettest Du die ganze Welt.“[26] Und diese islamische Denkmöglichkeit scheint tatsächlich auch in den Emiraten des Nahen Ostens Fuß zu fassen und eine islamische Renaissance zu befördern, die nicht nur neu eine islamische Kultur aufbauen will sondern auch die kühnsten Projekte für ökologische CO2-freie Städte mit ausschließlich erneuerbaren Energien ins Leben ruft.

Nun bleiben nur die Fragen im Raum, warum es bei ganz eindeutigen Fakten für ein Umdenken in Fragen der Weltentwicklung, der Ökologie und der Gerechtigkeit noch immer die Verweigerung gibt, sich weder an diesen Entwicklungen zu beteiligen, noch gar diese Veränderung der Welt – hin zu nachhaltigeren, gerechteren und überlebensfähigeren Stationen – wahrzunehmen und zu bejahen? Warum hat sich dieser Pessimismus in unser 21. Jahrhundert hinübergerettet? Warum haben sich Menschen unserer Gegenwart von einem Skeptizismus anstecken lassen, der im 20. Jahrhundert aufbrach und eigentlich schon als überwunden gelten sollte? Es war ein Skeptizismus, der eine vermeintliche Sinnkrise proklamierte und der bei einer Reihe von Intellektuellen“[27] eine dekadenten Lust zeigte, Sinnlosigkeit zu verkündigen. Welche psychischen und erkenntnistheoretischen Barrieren sind da und wie sind sie zu überwinden? Und welche Rolle spielen die Kirchen, Moschen, Synagogen u.a. Tempel und ihre Theologien, die diese chinesische Mauer des Denkens restituieren oder nicht genugsam bemüht sind, sie einzureißen?

Als ein letztes Argument gegen eine anhaltende Skepsis – die Weltgesellschaft könne nicht grundlegend und nicht zu Güte, Schönheit und Wahrhaftigkeit aus-wickelnd verändert werden – möchte ich hier proklamieren: „Wenn wir nicht wollen, daß die Menschheit in absehbarer Zeit völlig im Chaos[28] untergeht, dann müssen wir heute so handeln, als ob es eine Weltverbesserung gibt, die zukunftsfähig, nachhaltig und einigermaßen stabil ist. Dieses so äußerst  notwendige Handeln-als-ob muß heute unabhängig davon sein, ob es sich beweisen läßt, daß die Welt nachhaltig verbesserlich ist oder nicht, unabhängig davon, ob es Rückschläge bei den Bemühungen in früherer Zeit gab und unabhängig davon, ob solche Verbesserungen nur zeitweilig und nur partiell möglich sein werden und ob Rückschläge in der Zukunft zu erwarten sind und immer wieder Ungerechtigkeiten, Leiden und Notvolles befürchtet werden müssen. Wir müssen heute so handeln um der Leiden, der Not und des Unheils von Mitmenschen und der Mitschöpfung. Denn wenn wir die Augen davor verschließen, gehen wir unseres Menschseins verlustig und verfrachten uns selbst in einen bestialischen Abgrund. So sind wir also unter der Alternative von Sein oder Nichtsein dazu verdonnert und berufen, den Glauben an die Verbesserlichkeit und die Zukunftsfähigkeit dieser Welt aufrechtzuerhalten, so wie es Jesus Christus mit seiner „Botschaft vom Reich-Gottes-Jetzt“ von uns gefordert hat. Und darum sollen wir uns bemühen im Zeichen der Zukunftsverheißung und des Kommens (Adventus) Gottes zur Herausrufung seiner Schöpfung aus ihrem notvollem Zustand.“ 



[1] aber eben dann doch gefahrvollen oder leidvollen

[2] Mt 10,7

[3] Mt 10,8

[4] Gal 5:13

[5] Eph 4:28f

[6] 1. Petr 3,7

[7] 2. Kor 5:17

[8] Gal 6,2ff

[9] Mt 25,40

[10] M. Machovec, Frage nach Gott als die Frage nach dem Menschen … a.a.O., S. 121-122.

[11] Ps 85,11f

[12] die Bergpredigt Jesu als eine Summe seiner Angebote.

[13] In dem Adventlied „Es kommt ein Schiff geladen… “ wunderbar beschrieben.

[14] 2. Kor 5,17

[15]  Jes 42,9

[16] Jer 31,22

[17] Jes. Sir 14,11

[18] Luk 6,35

[19] Diese Gedanken lehnen sich an Aussagen von C. F. von Weizsäcker, „Der Garten des Menschlichen“ an

[20] Jes 11,1-16

[21] in von Weizsäcker, Carl, Friedr., Die Einheit der Natur, München 19724

[22] Siehe auch G. Loettel, Der Doppelaspekt des Geistes ,Paul Lang Verlag, Fft./M. 2009

[23] Franz Alt, Rosi Gollman, Rupert Neudeck, Eine bessere Welt ist möglich – ein Marshallplan für Arbeit, Entwicklung und Freiheit

[24] nach Franz Alt et al. a.a.O.

[25] die genannten Franz Alt, Rosi Gollmann, Rupert Neudeck, Hermann Scheer, Ulrich Duchrow, Franz J. Radermacher, Michael Gorbatschow, Al Gore, Peter Krämer, Muhammad Yunus (Grameen-Bank), Kofi Anan, Nelson Mandela, Milan Machovec+  u.v.a.m.

[26] 5. Sura 35

[27] So Milan Machovec, in  Der Sinn der menschlicher Existenz, aus dem tsch. von G. Loettel, Innsbruck, Wien 2004.

[28] Und das sind Bürgerkriege, Klimakatastrophen, Terrorismus, Hungersnöte, Wassernöte, Kriege, vornehmlich aber ein alles vernichtender atomarer Weltkrieg  u.v.a.m.


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